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Merkel demobilisiert wieder

Von Alexander Dworzak

Politik

Deutsche Kanzlerin gibt Nein zur "Ehe für alle" auf - und nimmt anderen Parteien Thema weg.


Berlin/Wien. Fast hatte es den Eindruck, Angela Merkel wäre Mitleid mit ihrem Kontrahenten Martin Schulz überkommen. Eben noch wurde der SPD-Kanzlerkandidat reihum gerügt, weil er die jahrelange Wahlkampfstrategie der Kanzlerin als "Anschlag auf die Demokratie" gebrandmarkt hatte. Da servierte Merkel dem in Umfragen elf Prozentpunkte zurückliegenden Schulz ein Thema, um aus den Negativ-Schlagzeilen zu kommen. Bei einer Veranstaltung des Magazins "Brigitte" im Berliner Gorki-Theater gab sie das Nein von CDU und CSU zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare auf. Sie wünsche sich eine Diskussion, die "eher in Richtung Gewissensentscheidung geht", sagte Merkel - also ohne Fraktionszwang. Schulz nahm diese Einladung auf und preschte am Dienstag vor: Die SPD werde noch in dieser Woche im Bundestag über die "Ehe für alle" abstimmen lassen. Eine Mehrheit wäre fix.

Was wie ein grober Schnitzer Merkels wirkt, ist tatsächlich ein Baustein ihrer Erfolgsstrategie jener asymmetrischen Demobilisierung, die Schulz angeprangert hatte. Die Pragmatikerin Merkel rückt die konservative Union unbeeindruckt von deren inhaltlichen Wurzeln seit Jahren in die Mitte - sei es, indem sie die Energiewende ausruft und Kernkraftwerke schließt, die Wehrpflicht abschafft oder sich vom Konzept der Hauptschulen löst. Die Kanzlerin macht sich Themen der anderen Parteien zu eigen und gräbt diesen damit das Wasser ab.

Nun hat Merkel erkannt, dass die Position von CDU/CSU in der Ehefrage nicht mehr haltbar ist. 75 Prozent der Bürger befürworten laut einer im April veröffentlichten Umfrage des Emnid-Instituts die völlige Gleichstellung von lesbischen und schwulen Paaren im Eherecht. Und auch im Bundestag haben sich die Kräfteverhältnisse massiv zuungunsten der Union verschoben; CDU/CSU sind als Befürworter der 2001 eingeführten eingetragenen Lebenspartnerschaft mittlerweile alleine im Parlament. Selbst innerhalb der Union gibt es Risse. Neben der SPD wollen auch die Linkspartei und die Grünen geschlossen die "Ehe für alle". Dazu kommt die FDP, die nach der Wahl am 24. September wohl wieder in den Bundestag einziehen wird und ebenfalls für eine Reform eintritt.

Koalitionsbedingung erfüllt

Sozialdemokraten, Grüne und Liberale sind potenzielle Koalitionspartner nach der kommenden Wahl. Und alle drei Parteien haben klargemacht, dass die Gleichstellung homosexueller Paare zu den Bedingungen eines künftigen Koalitionsvertrages zählen werde. Anstatt die Frage also unnötig in die Länge zu ziehen, gibt Merkel nun bei einem nicht wahlentscheidenden Thema nach. Dem Vernehmen nach hatte sie sich vor dem Auftritt in Berlin mit CSU-Chef Horst Seehofer abgesprochen - ein weiteres Indiz dafür, dass Merkel der Sager nicht einfach passiert ist.

Die Kehrtwende der Kanzlerin stößt freilich nicht überall in der Union auf Gegenliebe. "Die CDU-Führung soll sich davor hüten, auch noch die letzten konservativen Werte zu zerstören", warnte Ex-Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU). Und die sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten ließen ausrichten, sie sähen keinen Änderungsbedarf.

Nicht so sehr der Inhalt wie der angedrohte Alleingang stößt dem Fraktionschef der Union, Volker Kauder, sauer auf. Er spricht von einem "Vertrauensbruch" der SPD: "Ein solches Thema, das hoch sensibel ist, einfach Knall auf Fall in den Bundestag zu bringen, zeigt, dass diese Partei ihrer Verantwortung in schwerer Zeit nicht gerecht werden kann." Die SPD kontert, die Union hätte die Materie über Jahre verschleppt. Einen Bruch der Koalition wollen die Sozialdemokraten aber nicht - womöglich brauchen die beiden Parteien einander ab Herbst als Koalitionspartner wieder.

Der Druck, noch in dieser Woche abzustimmen, rührt daher, dass es die letzte Sitzungswoche vor der Bundestagswahl ist. Im Parlament liegen gleich drei Gesetzentwürfe für die "Ehe für alle": von Bundesrat, Grünen und Linken. Eine erste Lesung des Gesetzesvorschlags, eine Ausschussberatung, eine Anhörung und eine zweite Lesung bis Freitag zu schaffen, hält der Berliner CDU-Vizechef Thomas Heilmann daher für "Wahlkampfgetöse".

Kern folgt Schulz

Ein weiterer Streitpunkt ist das Recht auf Volladoption für gleichgeschlechtliche Paare. Merkel sagte im Jahr 2013 in der ARD, sie tue sich "schwer damit": "Ich bin unsicher, was das Kindeswohl anbelangt." Im Gorki-Theater relativierte sie diese Aussage nun.

Die Debatte in Deutschland wurde sogleich von den Parteien in Österreich aufgenommen. Bundeskanzler Christian Kern plädierte für die "Ehe für alle". Im Nationalrat bleiben SPÖ, Grüne und Neos mit dieser Forderung aber weiter in der Minderheit.