Zum Hauptinhalt springen

"Ich wüsste nicht, wie man die Mittelmeerroute schließen kann"

Von Siobhán Geets

Politik

Nach den Wahlen in Deutschland und Österreich muss sich die EU über Flüchtlingspolitik einig werden.


"Wiener Zeitung": Die EU will in der Flüchtlingsfrage verstärkt mit Libyen zusammenarbeiten. Kann das gutgehen bei einem Staat ohne funktionierende Regierung?Jean Asselborn: Im Juni 2016 gaben wir der Mission Eunavfor, das sind sieben Schiffe mit der Hauptmission, Menschen zu retten, zwei weitere Aufgaben: Die Kontrolle des Waffenembargos und die Ausbildung der libyschen Küstenwache. Doch Libyen ist ein Land ohne Gesetze, ohne Verwaltung. Die Ausbildung der Küstenwache geschah auf Wunsch der Italiener. Man muss sich in ihre Situation versetzen: Mehr als 90 Prozent jener, die in Italien ankommen, kommen aus Libyen. Die neue Mission sollte das Schleuserbusiness eindämmen.

Richtig funktioniert hat das scheinbar nicht. Rund 85.000 Menschen haben es heuer bereits nach Italien geschafft.

Die EU hat für 2017 in Sachen Migration 200 Millionen Euro für Libyen bereitgestellt. Davon sind 35 Millionen für die Ausbildung der Küstenwache. Wenn wir wollen, dass nicht so viele Menschen ertrinken, müssen wir im Mittelmeer eine ernsthafte Mission auf die Beine stellen - was mit Eunavfor auch geschehen ist. Zusätzlich helfen NGOs, auch Frontex ist aktiv. Trotzdem sind dieses Jahr bereits mehr als 2000 Menschen ertrunken. Das Problem ist, dass die libysche Küstenwache im Hoheitsgewässer, also bis zu zwölf Seemeilen vor der Küste, eingreifen kann, während die internationalen Missionen nur auf hoher See aktiv sein dürfen. Die Küstenwache greift die Menschen innerhalb der libyschen Hoheitsgewässer heraus und muss sie nach Libyen zurückbringen.

NGOs warnen vor den schrecklichen Bedingungen in den Lagern, in denen Migranten in Libyen eingesperrt und misshandelt werden. Was kann dagegen getan werden?

Ich glaube den Berichten, dass die Menschen in Lager kommen, wo es zu Gewalttätigkeiten kommt - sie können teilweise mit Konzentrationslagern verglichen werden. Das darf nicht sein. Hier fließt europäisches Steuergeld, da muss jede einzelne Phase der Mission im Einklang sein mit unserer Auffassung von Menschlichkeit und Rechtsstaat. Die Menschen müssen bei den Rückführungen nach Libyen in Strukturen kommen, wo der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Anm.) und die IOM (Internationale Organisation für Migration) präsent sind. Dafür sollte die EU dem UNHCR mehr Mittel zur Verfügung stellen.

Sie gelten als europäischer Gegenspieler von Außenminister Sebastian Kurz, der fordert, die Mittelmeerroute zu schließen. Was schlagen Sie stattdessen vor?

Heuer wurden bereits rund 4000 Menschen freiwillig in ihre Herkunftsländer rückgeführt. Aus Libyen machen sich nicht nur Afrikaner auf den Weg, da sind viele aus Pakistan und Bangladesch dabei, die fast nie unter die Schutzstatuten der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Das muss man ihnen sagen - und dass sie das Risiko eingehen, im Mittelmeer zu ertrinken. Einmal in Italien angekommen, kann man die Menschen nicht nach Libyen zurückschicken. Politiker, die das vorgaukeln, liegen falsch: Libyen ist kein funktionierender Staat. Vielleicht werden Abkommen mit den dortigen Behörden einmal möglich, im Moment sind sie es nicht. Deshalb müssen jene, die in Italien ankommen, anständig aufgenommen werden. Gleichzeitig muss geprüft werden, ob sie unter die Flüchtlingskonvention fallen. Die es nicht tun, müssen in ihre Länder zurückgeführt werden.

Werden große europäische Themen wie Migrationspolitik national instrumentalisiert?

Ich will mich nicht in nationale Wahlen einmischen, das ist nicht meine Rolle. Wir haben unter den Außenministern lange diskutiert, ob die Mittelmeerroute geschlossen werden soll. Da ist keiner, der sagt, dass das möglich ist - außer einem vielleicht. Das umzusetzen, ist allerdings eine andere Sache, ich wüsste nicht, wie man die Mittelmeerroute schließen könnte. Das hieße ja entweder, die Menschen ertrinken zu lassen oder mit militärischen Mitteln zu verhindern, dass noch ein einziger versucht, herüberzukommen. Das ist nicht machbar. Werden bei diesem Thema nationale Interessen gespielt, vor allem vor Wahlen, schadet das Europa fundamental. Das kann Europa vor eine Zerreißprobe stellen.

Auf Ihre Kritik an Sebastian Kurz heißt es aus Wien mitunter, Österreich sei sehr wohl solidarisch, man habe sein Soll mit der Aufnahme von rund 90.000 Flüchtlingen allein 2015 längst erfüllt. Luxemburg habe hingegen mit ein paar Tausend nur sehr wenige Menschen ins Land gelassen.

(Lacht) Sieht man sich das Verhältnis an, dann ist Luxemburg bei der Aufnahme von Menschen aus dem Resettlement- und Relocation-Programm an der Spitze. Wir haben unsere Aufgaben erfüllt. Ich bin nicht dazu da, mich mit österreichischer Innenpolitik zu beschäftigen. Ich wurde gefragt, ob man die Mittelmeerroute schließen kann. Meine Antwort kennen Sie. Zudem habe ich immer gesagt, dass wir keine nationalen Sonderwege gehen, sondern das Problem europäisch lösen sollen. Genau wie beim Kampf gegen Terrorismus oder beim Klimaschutz - auch diese Probleme können nicht durch die Addition nationaler Interessen gelöst werden.

In der Realität wird Italien damit alleingelassen, von einer europäischen Lösung kann keine Rede sein. Sind Sie dennoch zuversichtlich?

Ich glaube, dass wir im Herbst, nach den Wahlen in Deutschland und Österreich, über europäische Migrationspolitik entscheiden müssen. Wir müssen uns die Frage stellen, ob es so etwas wie Solidarität in der Europäischen Union noch gibt - vor allem bei der Migration. Ich bin überzeugt davon, dass wir uns in der Migrationsfrage einigen müssen, bevor wir das EU-Budget für die Jahre nach 2020 besprechen. Gelingt das nicht, bleiben einige Länder auf der Kriechspur. Die EU basiert auf Verantwortung und Solidarität. Das sind keine abstrakten Begriffe, sondern wichtige Werte im politischen Alltag.