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"Viele hoffen auf Europa"

Von Wolfgang Sablatnig

Politik

Seit dem Putschversuch in der Türkei nehmen die Repressionen zu. Juristin Gülsah Kurt plädiert für Dialog.


"Wiener Zeitung": Sie haben in einem Vortrag die Veränderungen in der Türkei als Abkehr von der Demokratie und Hinwendung zu einem autoritären System beschrieben. Präsident Recep Tayyip Erdogan galt einst aber als Hoffnungsträger. Meinte er das jemals ernst - oder war das alles nur Tarnung auf dem Weg zur Macht?

Gülsah Kurt: Ich habe immer gedacht, dass es nur Tarnung und Camouflage war. Bis sie die Macht im Parlament, in der Justiz und bei der Polizei errungen haben, haben sie Unterstützung gesucht, auch bei den liberalen Kräften. Ein Beispiel war die Verfassungsänderung 2010, bei der es auch ein Referendum gab. Die AKP gab vor, wirkliche Demokratie zu wollen und versprach, die Verantwortlichen des Putsches von 1980 vor Gericht zu stellen. Viele, auch liberale Kräfte, haben ihnen das abgekauft. Ich habe als Juristin aber gesehen, dass es der AKP nie um Demokratie ging.

Gibt es Widerstand gegen diese Änderungen? Wie ist die Lage der Opposition?

Es gibt keine wirksame Opposition in der Türkei, nicht im Parlament und auch nicht außerhalb. Es ist schon sehr lange so. Dieses Fehlen der Opposition hat es der AKP möglich gemacht, bei Wahlen immer zu gewinnen. Die Oppositionsparteien sind untereinander zerstritten und unterstützen sich nicht gegenseitig. Statt gemeinsam gegen  antidemokratische Strömungen aufzutreten, sind sich nur im Nationalismus einig.

Nationalismus ist wichtiger als Demokratie?

In gewisser Weise lässt sich das sagen. Die Kurdenfrage ist immer unter dem Mantel des Nationalismus verhandelt worden.

Mit dem "Marsch der Gerechtigkeit" und der großen Abschlusskundgebung in Istanbul hat die größte Oppositionspartei CHP zuletzt aber ein starkes Zeichen gesetzt.

Die CHP hat den Blick immer mehr auf die Interessen des Staates als auf die Grundrechte des Einzelnen gerichtet. Mit dem "Marsch der Gerechtigkeit" hat aber etwas Neues begonnen. Das hat mit der CHP und ihrem Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu zu tun, aber auch mit allen anderen Gruppen und Parteien, die sich angeschlossen haben. Vielleicht kann man sagen, dass Kilicdaroglu die Stimme von Millionen Menschen geworden ist, die angesichts der Politik der Regierung frustriert und am Ende sind. Ich denke, dass die Mehrheit der Teilnehmer an der Schlusskundgebung in Maltepe keiner Partei angehört. Es sind aber jene Menschen gekommen, die neue Hoffnung für ihre Zukunft suchen.

Erdogan galt einst als Hoffnungsträger. Meinte er das jemals ernst – oder war das alles nur Tarnung auf dem Weg zur Macht?

Ich habe immer gedacht, dass es nur Tarnung und Camouflage war. Bis sie die Macht im Parlament, in der Justiz und bei der Polizei errungen haben, haben sie Unterstützung gesucht, auch bei den liberalen Kräften. Ein Beispiel war die Verfassungsänderung 2010, bei der es auch ein Referendum gab. Die AKP gab vor, wirkliche Demokratie zu wollen und versprach, die Verantwortlichen des Putsches von 1980 vor Gericht zu stellen. Viele, auch liberale Kräfte, haben ihnen das abgekauft. Ich habe als Juristin aber gesehen, dass es der AKP nie um Demokratie ging. In der Öffentlichkeit haben sie das Bild demokratischen Fortschritts erweckt. Das war möglich, weil viele Menschen das Kleingedruckte nicht gelesen haben. In Wirklichkeit haben Erdogan und die AKP aber andere Ziele verfolgt. Die AKP hat diese Taktik wiederholt angewandt und ihren Reformen einen demokratischen Anstrich gegeben. Ein Gesetzespaket hieß etwa Reform der Meinungsfreiheit – unter diesem Deckmantel haben sie die Meinungsfreiheit aber beschränkt.

"Reform" im Sinne von "Beschränkung"…

Ja. Die Verpackung schaut gut aus. Aber wenn man hineinschaut, entdeckt man die wahren Beweggründe. Ich habe sehr genau beobachtet, was geschieht. Ich war damals Forschungsassistentin. Als ich draufkam, wie hier getrickst wurde, habe ich begonnen, die Änderungen genau zu beobachten – und es war immer die gleiche Strategie.

Wann haben Erdogan und die AKP mit dieser Taktik begonnen?

Es begann mit den Massenprozessen auf der Basis des Anti-Terror-Gesetzes ab 2007. Der Beginn war Ergenekon-Prozess gegen eine Vielzahl von Menschen, es folgten weitere Massenprozesse gegen Kurden, gegen Vertreter der Linken, aber auch gegen Gegner der Gülen-Bewegung, die damals noch Seite an Seite mit der AKP stand. Viele Leute denken, dass die Gülen-Bewegung diese Verfahren initiiert hat.

Sie erwähnen Fethullah Gülen und seine Bewegung. Welche Rolle spielt er?

Gülen ist der Mastermind. Erdogan wäre ein Niemand, wenn es Gülen nicht gegeben hätte. Er hatte immer mehr Macht als Erdogan, weil er viele Jahrzehnte daran gearbeitet hat, seinen Einfluss auszubauen. Er hat eine Armee aufgestellt, in der Justiz, in der offiziellen Armee, bei der Polizei, in der ganzen Verwaltung. Seine Leute waren überall.

Was will Gülen?

Wegen Kritik an Erdogan geriet Kurt in der Türkei unter Beschuss - sie ging ins Exil; viele ihrer Kollegen sitzen in Haft.
© Stanislav Jenis

Da gibt es viele Meinungen. Ich denke, es geht nur um die Macht. Es ist tatsächlich so einfach. Vielleicht wollte er auch einen islamischen Staat errichten, letztlich geht es ihm aber nur um Macht. Erdogan brauchte ihn und seine Leute zum Aufstieg.

Warum kam es dann zum Bruch?

Es war ein Machtkampf.

Sie gehören zu den "Akademikern für den Frieden", die offen gegen die Politik der Regierung auftreten. Was war der Auslöser für diese Initiative?

Die Regierung hat nach einer friedlichen Periode in den Kurdengebieten wieder gravierende Menschenrechtsverletzungen verübt. Im Jänner 2016 schließlich schlossen sich einige Akademiker zusammen. Wir beschuldigten die Regierung, Verbrechen in Kurdistan zu begehen und Zivilisten zu töten. Wir sagten, wir wollten nicht Teil dieses Verbrechens sein und sprachen in der Öffentlichkeit darüber. Am Anfang standen 100 Leute, schnell unterzeichnen aber 1200 Akademiker in der ganzen Türkei und außerhalb des Landes diese Petition.

Wie reagierte Erdogan?

Er sprach nur einen Tag nach der Veröffentlichung im Fernsehen. Er schrie und attackierte die Unterzeichner. Ich war an diesem Tag bei einer Konferenz über Betrugsbekämpfung mit vielen hochrangigen Polizisten zusammen. Es war verrückt. Er beschuldigte uns - und mir saßen die Kommandanten in Uniform gegenüber. Erdogan rief die Bildungsbehörde auf, uns zu bestrafen. Als Reaktion auf Erdogans Attacken unterzeichneten aber weitere 1000 Personen die Petition. Plötzlich waren wir mehr als 2000 Unterzeichner. Vor allem für Kollegen in kleineren Städten war dieser Schritt nicht leicht. Gleichzeitig stellte sich eine Reihe von Akademikern gegen uns. Sie unterzeichneten ebenfalls eine Erklärung, in der sie betonten, dass sie keine Verräter seien und die Regierung im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen.

Wie ist die Situation Ihrer Kollegen jetzt, eineinhalb Jahre später?

Nicht gut. In den ersten Monaten nach der Petition leiteten viele Universitätsleitungen Disziplinarverfahren ein. Einige Unterzeichner wurden gekündigt. Privatunis verlängerten Verträge nicht - offiziell ohne Angabe von Gründen, aber jeder wusste Bescheid. Andere wurden verhaftet und mehrere Tage inhaftiert, es gab Hausdurchsuchungen. Einige trauten sich nicht mehr an ihre Arbeitsplätze. Ich wurde auf Twitter mit Foto als Unterzeichnerin geoutet. Meine Kollegen und ich wurden mit einem großen Plakat als Verräter gebrandmarkt. Nach dem Putschversuch vor einem Jahr wurde es noch schlimmer. Jetzt konnte die Regierung ihre Notstandsdekrete einsetzen.

Wie ging es Ihnen?

Ich habe meinen Job in der Türkei selbst aufgegeben. Das Hauptproblem ist aber, dass mit der Entlassung von der Uni auch der Reisepass eingezogen wird. Du kannst das Land dann nicht mehr verlassen. Es kommt alles zusammen: Du hast keinen Pass mehr, keinen Job, du bist als Terrorist gebrandmarkt.

Können Sie in die Türkei reisen?

Ich kann zurückgehen. Ich habe aber keine Garantie, dass mein Pass nicht sofort eingezogen wird. Vielleicht bekomme ich auch nur Probleme am Flughafen. Das alles kann passieren.

Sie sind seit November in Wien. Waren Sie seither in der Türkei?

Nein. Es gibt in der Türkei keine Garantien für mich. Ich weiß nicht, wann es wieder sicher genug sein wird. Du kannst von einem Moment auf den anderen alles verlieren. Viele meiner Kollegen versuchen jetzt, sich eine neue Existenz aufzubauen, sie eröffnen Kaffeehäuser, Buchhandlungen, Suppenküchen. Sie versuchen alle möglichen Geschäfte, weil sie für ihre Familien Geld verdienen müssen. Damit lösen sie ihre Probleme aber nicht. Diese Menschen verlieren ihre Identität, wenn sie vom akademischen Leben ausgegrenzt werden.

Wie viele Akademiker und Universitätslehrer haben ihren Job verloren?

400 aus der Gruppe der "Akademiker für den Frieden". Insgesamt sind es aber Hunderttausende. Die Mehrheit ist noch immer in der Türkei. Und wer außerhalb der Türkei ist, hat das Land in der Regel nicht freiwillig verlassen. Ich habe mich selbst dafür entschieden. Ich wollte mir diese Entscheidung nicht nehmen lassen und habe meinen Job in der Türkei daher selbst gekündigt. Aber ganz freiwillig war es wohl nicht.

Sie verlassen Wien im September Richtung Frankreich.

Ich habe dort für ein Jahr ein Postdoc-Stipendium. Was danach sein wird, weiß ich nicht.

Sie leben im Exil?

Ja, es ist eine Art von Exil.

Hat Ihre Familie in der Türkei Probleme?

Meine Familie unterstützt mich voll und ganz, auch wenn wir ideologisch nicht immer einer Meinung sind. Sie verstehen meine Unterstützung für die Kurden nicht, aber sie respektieren meine Haltung. Sie wollen, dass ich in Frieden leben kann. In der Türkei wäre das bei meinen Forschungsschwerpunkte Menschenrechte und Genderfragen nicht möglich. Dennoch gehöre ich zu den Glücklichen. Ich bin nicht verheiratet, ich habe keine Kinder, ich bin ungebunden. Es ist leichter für mich. Andere Kollegen müssen viel größere Hürden überwinden und versuchen, ihre Familien nachzuholen. Mit Kindern, die ihre Schulen und ihre Umgebung aufgeben müssen, ist es aber immer viel schwieriger.

Was sollten die europäischen Länder tun, um die Situation in der Türkei zu verbessern?

Üblicherweise beantworte ich diese Frage als Vertreterin der "Akademiker für den Frieden". Ich sage dann, dass die europäischen Ländern Jobs für türkische Wissenschafter schaffen sollten, nach dem Vorbild von Deutschland oder Frankreich. Aber auch andere Gruppen benötigen Unterstützung. Viele Menschen sind im Gefängnis, viele sind bedroht. Es geht nicht nur um Akademiker. Vielleicht finden sich kreative Wege, sie zu unterstützen.

Müssen diese Menschen auch in der Türkei unterstützt werden?

Ja. Viele können die Türkei nicht verlassen, weil ihr Reisepass für ungültig erklärt wurde. Vielleicht gibt es kreative Wege der Kooperation. Es gibt auch einen Aufruf für einen akademischen Boykott von türkischen Universitäten, die mit dem Regime zusammenarbeiten und kritische Personen entlassen. Das könnte ein Weg sein.

Wie schaut es auf der politischen Ebene aus, etwa mit einem Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen?

Ich kenne die Diskussion. Ich weiß aber nicht, ob sie hilfreich ist. Viele Menschen in der Türkei, vielleicht sogar eine Mehrheit, hoffen nach wie vor auf Europa. Es braucht eine scharfe Reaktion. Aber einfach die Beziehungen zu kappen und die Verhandlungen zu stoppen würde nur Schaden anrichten. Die Menschen würden die Hoffnung verlieren.

Und Erdogan wäre nicht beeindruckt?

Er würde wohl reagieren wie ein Bully, wie ein Rüpel, so wie er das immer tut. Aber ja, es würde die Situation beeinflussen. Auf lange Sicht könnte ein Stopp der Beitrittsverhandlungen etwas bewirken. Aber den Menschen wäre nicht geholfen. Das Land würde noch mehr in die Isolation geraten.

Ist es hilfreich, AKP-Politikern Auftritte bei türkischen Vereinen zu verbieten, wie zuletzt in Wien?

Wir haben Ähnliches auch in Deutschland und den Niederlanden gesehen. Ich persönlich begrüße diese Maßnahmen, es ist besser zu handeln als untätig zu sein. Gleichzeitig bleibe ich dabei, dass die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht abbrechen sollte.

In Österreich haben sich nach dem Referendum im April viele gefragt, warum es hierzulande eine große Mehrheit für Erdogans Pläne gab. Die Menschen leben hier doch in einemfreien Land. Warum tun sie das? 

Der Hauptgrund ist die fehlende Integration. Ich spreche da gar nicht von der großen Politik. Wenn du aber wirklich integriert bist, weißt du, was Wahlen bedeuten, du solltest Frauen und die Gleichberechtigung unterstützen. Viele Türken sind aber nicht wirklich integriert. Sie können mit den demokratischen Werten dieses Landes nichts anfangen. Wie sollen wir dann von ihnen erwarten, dass sie die demokratischen Werte in der Türkei unterstützen?

Es geht um Einstellungen und Werte?

Ja, genau. Ich kenne das sehr genau, weil ich mein ganzes Leben in der Türkei verbracht habe. Es geht nicht nur um Bildung und Erziehung, es geht nicht um Abendland oder Morgenland. Es geht um Integration. Die Türken in Österreich leben zwischen beiden Ländern und Kulturen. Österreich heißt diese Menschen nicht willkommen. Und wenn dann ein Politiker aus der früheren Heimat kommt und sagt, ich verstehe euch, ich respektiere euch, ihr gehört zu meinem Land, machen wir dieses Land gemeinsam groß: Dann willst du das glauben und kaufst ihm die Versprechen ab.

(Eine gekürzte Fassung ist in der Printausgabe vom 14.7.2017 erschienen)

Gülsah Kurt (38) arbeitet derzeit am interdisziplinären Forschungszentrum Menschenrechte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien.

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Wolfgang Sablatnig, Ex-Redakteur der "Wiener Zeitung", ist Sprecher des Verfassungsgerichtshofs.