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Die unfassbare Kanzlerin

Von Ronald Schönhuber

Politik

Angela Merkel bereitet generalstabsmäßig ihre vierte Kanzlerschaft vor. Sie gibt die Anti-Wahlkämpferin, wodurch Gegner ins Leere laufen.


Berlin. Immerhin eine ungeplante Abweichung gab es. Weil der Sommer im Norden Deutschlands derzeit noch auf sich warten lässt, findet das große ARD-Sommerinterview mit Angela Merkel nicht draußen im Freien statt, sondern wird im Foyer des Hauptstadtstudios in Berlin aufgezeichnet. Die Kanzlerin selbst bleibt dagegen jede Überraschung schuldig. In dem 19 Minuten dauernden Gespräch arbeitet Merkel die gestellten Fragen ab, ohne dabei irgendwann in größere Erklärungsnöte zu geraten.

Die Kanzlerin zelebriert dabei eine Methode, die den politischen Gegner schon seit Jahren in die Verzweiflung treibt. Wann immer ein Thema - wie etwa die Ausschreitungen beim Hamburger G20-Gipfel - heikel werden könnte, kippt die CDU-Chefin gewissermaßen noch eine Portion Weichspüler dazu. So bleibt beim Interview am Sonntagabend von den G20-Randalen nicht viel mehr übrig, als dass man sich vor der Verantwortung nicht drücken werde und dass in Hamburg Dinge passiert sind, "die absolut nicht akzeptabel sind".

Knapp zwei Monate vor der Bundestagswahl am 24. September lässt sich diese Strategie aber nicht nur dann beobachten, wenn die Kameras auf die mächtigste Frau Europas gerichtet sind. Denn nach mehr als elf Jahren im Amt bereitet Merkel generalstabsmäßig ihre vierte Kanzlerschaft vor. Und im heraufziehenden Wahlkampf kann jede Bemerkung auf die Goldwaage gelegt werden. Im schlimmsten Fall reicht schon eine unachtsame Äußerung, um die Gräben zwischen der CDU und der bayerischen Schwesterpartei CSU wieder aufzureißen oder die Debatte um die Grenzöffnung für Flüchtlinge, die Merkel 2015 ins Wanken gebracht hat, wiederzubeleben (siehe Artikel unten). Und wie schnell es in der Wählergunst auch wieder bergab gehen kann, hat der Kanzlerin ihr Kontrahent Martin Schulz soeben eindringlich vor Augen geführt. Schließlich ist es nur ein paar Monate her, dass die derzeit 13 Prozent Rückstand aufweisende SPD in den Umfragen gleichauf mit der Union lag.

Wie bewusst Merkel derzeit die Anti-Wahlkämpferin gibt, hat sich auch bei ihrer kurzen Bäder-Tour an der Nord- und Ostsee gezeigt. Bei Strandkorb-Atmosphäre scherzte Merkel entspannt mit Einheimischen und Touristen, den Namen der Konkurrenzpartei SPD erwähnte sie aber kein einziges Mal. Auch sonst gab es bei den vier Auftritten kaum inhaltliche Details, dafür lobte die Kanzlerin aber Deutschlands Schönheit und bedankte sich bei Ehrenämtlern, Großeltern und Polizisten für deren Einsatz.

Ein Mensch zum Anfassen

Doch so unverbindlich und wenig konkret die Auftritte im Rahmen der Bäder-Tour auch gewesen sein mögen, aus Sicht der Wahlkampfstrategen helfen sie Merkel enorm. Denn während ihr Gegner Martin Schulz als jovial und bodenständig wahrgenommen wird, läuft die Kanzlerin langsam Gefahr, in unnahbare historische Dimensionen zu entrücken.

Dass Bodenständigkeit zu zeigen Merkel mitunter schwerfällt, ist kein Geheimnis. Über Jahre haben die CSU-Chefs Edmund Stoiber und Horst Seehofer verzweifelt versucht, der ostdeutschen Physikerin und CDU-Chefin in vertraulichen Gesprächen klarzumachen, dass Logik und Rationalität allein keine Wahlsiege bringen. Und auch diesmal werden für Merkel, die 2005 nur widerwillig ihr Outfit geändert hatte, ganz gezielt Termine gesucht, bei denen sie ein Mensch zum Anfassen ist und eine persönliche Note zeigen kann - und auch einmal gefragt wird, wie viele Stunden Schlaf sie eigentlich braucht oder ob sie gerne einkaufen geht.

Dass sich allein mit der Person Merkel und den Erfolgen der Vergangenheit die Wahl nicht gewinnen lassen wird, räumt man allerdings auch in der CDU-Spitze ein. Um ein viertes Mal Kanzlerin zu werden, muss die 63-Jährige nach einhelliger Meinung der Wahlforscher auch eine Vision der Zukunft skizzieren.

Gefunden scheint Merkel diese Zukunftsorientierung vor allem in den Bereichen Europa und Digitalisierung zu haben, wobei gerade Letztere auf der Agenda der Kanzlerin immer wichtiger geworden zu sein scheint. Auf Wahlveranstaltungen entschuldigt sich die CDU-Chefin manchmal, dass sie über etwas Abstraktes wie "disruptive" Prozesse rede. Aber sie müsse es tun, weil eine technologische Revolution mit Umwälzung in fast allen Lebensbereichen bevorstehe. "Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass Veränderung etwas Normales ist", hämmert sie etwa den Zuhörern auf der IT-Veranstaltung der CDU in Berlin ein.

Auch bei den damit verbundenen Themen Breitbandausbau und "Industrie 4.0" will Merkel Wählern das Gefühl vermitteln, dass sie einen gerade begonnenen Prozess unbedingt noch selbst abschließen will - weil sie das Thema als Schicksalsfrage für den Industriestandort Deutschland empfindet. So häufen sich schon seit 2013 ihre Warnungen, dass die EU von den IT-Giganten USA und China komplett an den Rand getrieben werden könnte.

Kampf um Europa

Zukunftssicher muss aus Merkels Sicht aber nicht nur Deutschland, sondern auch Europa werden. Zusammen mit dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron will sie sich daher an eine energischere Reform der Eurozone machen, ein eigenes Eurozone-Budget und ein eigner Euro-Finanzminister sind dabei nicht ausgeschlossen.

Dass sich Macron dabei an ihrer Seite als Visionär präsentieren könnte, sei überhaupt kein Nachteil, glaubt man in der Union. Denn bei den stabilitäts-orientierten Deutschen könne Merkel eher mit einem Ansatz punkten, die luftigen Konstruktionen ihrer Vorgänger wetterfest zu machen, heißt es.

Ebenso dürfte der Kanzlerin die unruhige internationale Lage in die Hand spielen. Laut dem ARD-Deutschlandtrend wird die CDU-Chefin als Garant von Stabilität in einer unruhigen Welt wahrgenommen, die gerade durch ihren ruhigen Umgang mit schwierigen Präsidenten wie Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan Punkte sammelt.

Die Europapolitik dürfte allerdings auch eines der Felder sein, auf dem Schulz Merkel als ehemaliger Präsident des EU-Parlaments gefährlich werden könnte. Als der SPD-Kanzlerkandidat bei der Vorstellung seines Zukunftsplans für Deutschland am Sonntag einen Frontalangriff startet, um die schwierig zu fassende Merkel doch noch in eine Wahlauseinandersetzung zu zwingen, pickt er sich dabei wohl nicht ganz zufällig europapolitische Themen heraus. Die beste Möglichkeit, Merkel Paroli zu bieten, wird es für Schulz aber womöglich am 3. September geben. Denn wenn es im TV-Duell um die Herzen der Menschen geht, sieht sich Schulz selbst bei gehörigem Einsatz des Merkel’schen Weichspülers besser gerüstet als die Kanzlerin.