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Ein Prozess als Machtdemonstration

Von Martyna Czarnowska

Politik

Das nächste Mammutverfahren gegen mutmaßliche Putschisten in der Türkei ist eröffnet.


Ankara/Brüssel/Wien. Verletzung der Verfassung, versuchter Präsidentenmord und Regierungssturz, Führung einer bewaffneten Terrororganisation: Das sind nur einige der Vorwürfe, die die Verdächtigen im jüngsten Mammutprozess in der Türkei zu hören bekommen. 486 Angeklagte stehen seit gestern, Dienstag, vor Gericht, in einem eigens für das Verfahren errichteten Gebäude bei Ankara. Gegenstand der Verhandlung ist der gescheiterte Putschversuch vor gut einem Jahr, und beleuchtet werden sollen vor allem die Ereignisse auf dem Luftwaffenstützpunkt Akinci, von dem aus der Staatsstreich koordiniert worden sein soll. Zu den Verdächtigen gehören der ehemalige Luftwaffenkommandeur Akin Öztürk, der Geschäftsmann Kemal Batmaz und der Theologiedozent Adil Öksüz.

Doch einer der Hauptangeklagten ist nicht anwesend. Der im Exil in den USA lebende islamische Prediger Fethullah Gülen gilt seinem ehemaligen Weggefährten, Präsident Recep Tayyip Erdogan, und der konservativen Regierung als Drahtzieher des Putschversuchs. Und seit einem Jahr reicht in der Türkei schon die Vermutung, dass jemand ein Anhänger der Gülen-Bewegung ist, um ihn zu verhaften. Tausende Polizisten, Juristen und Lehrer, dutzende Journalisten, Aktivisten und Oppositionelle sind seitdem festgenommen oder entlassen worden. Gegen die mutmaßlichen Putschisten laufen auch schon andere Verfahren.

Dass aber die Ereignisse vom Juli 2016, die rund 250 Todesopfer gefordert hatten, tatsächlich aufgearbeitet werden, ist wenig wahrscheinlich. Zu viele Fragen bleiben unbeantwortet, zu viele Hintergründe ungeklärt - und die Regierung scheint an einer Offenlegung auch nicht besonders interessiert. Denn für sie steht der Hauptschuldige und dessen Absicht fest. Diese bestand im Umsturz des demokratisch gewählten Kabinetts der islamisch geprägten AKP und im Mord am mächtigen Staatspräsidenten. Diese Festlegung lässt Kritiker denn auch von politischen Prozessen sprechen.

Das würde Erdogans autoritären Tendenzen wohl durchaus entsprechen. Der Präsident ist dabei, seinen schon jetzt starken Einfluss noch auszuweiten. In einem Verfassungsreferendum ließ er sich vor wenigen Monaten dafür den Weg ebnen. Die wirtschaftliche Entwicklung, die etliche Wähler im vergangenen Jahrzehnt überzeugt hatte, könnte ihm ebenfalls Rückenwind geben. Denn schon sind in der Türkei Anzeichen für eine Konjunkturbelebung zu erkennen. Sogar der wichtige Tourismussektor, der in den vergangenen zwei Jahren wegen bilateraler Streitigkeiten und Terroranschlägen etliche Einbußen hinnehmen musste, scheint sich zu erholen. Die Gästezahlen steigen wieder.

Starke politische Widersacher hat Erdogan derzeit auch nicht zu fürchten. Der Großteil der von ihm mitgegründeten AKP steht hinter ihm, und oppositionelle Parlamentarier sind vom Verlust ihrer Immunität sowie von Strafverfolgung bedroht.

Kritik aus EU verhallt

Dass all das Kritik in der Europäischen Union, der die Türkei beitreten möchte, auslöst, kümmert Ankara derzeit wenig. Spitzenpolitiker dort orten vielmehr haltlose Vorwürfe aus Brüssel, Berlin und Wien, die Vorurteilen gegenüber dem türkischen Staat und der dort vorherrschenden Religion geschuldet sind.

In der Zwischenzeit ringt die EU um eine passende Antwort auf die politische Entwicklung in dem Kandidatenland. Österreichische Regierungsvertreter haben schon einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen gefordert. Und mittlerweile drängt auch Deutschland auf eine Kursänderung gegenüber Ankara. Als ein Druckmittel sieht das Kabinett in Berlin die Gespräche über eine Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei. Sie wären "ein falsches Signal", zitiert die Nachrichtenagentur Reuters aus dem Argumentationspapier. Ebenso sollte die Finanzhilfe, die zur Vorbereitung auf eine EU-Mitgliedschaft dient, überprüft werden.

In Ankara wird dies mit Gelassenheit hingenommen. Ein Regierungssprecher fand bereits die Begründung für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den zwei Ländern: In Deutschland sei eben Wahlkampf.