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Frankreichs Präsident im Bermudadreieck

Von Thomas Seifert

Politik

Dass Emmanuel Macron den Ausnahmezustand in Frankreich noch nicht wieder aufgehoben hat, sehen die beiden frankophilen Denker Alexander Neumann und Ulrike Guérot äußerst kritisch.


Burg Schlaining. Bei der diesjährigen 34. Sommerakademie an der Burg Schlaining im Burgenland, , die heuer den Titel "Umbruch - Perspektiven für europäische Friedenspolitik" stand, trafen die deutsche Politikwissenschafterin mit engen Bezügen zu Frankreich Ulrike Guérot und der in Frankreich lehrende deutsche Politikwissenschafter Alexander Neumann zusammen, um über Frankreich unter Präsident Emmanuel Macron, Deutschland und die Zukunft Europas zu diskutieren.

"Wiener Zeitung": Wie sehen sie die derzeitige Bilanz des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Ist Jubel angebracht?

Ulrike Guérot: Jubel ist nicht der Begriff, den ich wählen würde. Macron ist real von nur rund 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler gewählt worden, da die Wahlbeteiligung ja bei unter 50 Prozent lag. Was Macron jetzt vorhat, ist wohl auch nicht so leicht zu verwirklichen und es stellt sich auch die Frage, was am linken und am rechten Rand, rund um Jean-Luc Mélenchon oder Marine Le Pen weiter passiert. Er findet sich in einem Bermudadreieck dass er jetzt angehen muss, wieder. Die drei Eckpunkte dieses Bermudadreiecks sind ganz schwer in Einklang zu bringen: Macron muss einerseits die Linke schützen oder ihr zumindest etwas anbieten, sein Versprechen von einem sozialen Europa einlösen, er muss Reformen durchziehen und all das braucht eine europäische Einbettung. Aber in welcher Sequenzierung macht er das nun? Kriegt er zuerst etwas von der EU, um die Befriedung der Linken zu erleichtern, damit er dann Reformen machen kann? Oder muss er zuerst die Reformen angehen, damit die deutschen - sprich Europa - ihm eine europäische Einbettung geben. Ich denke aber, dass in Berlin klar ist, dass Macron die beste Chance dafür ist, bestimmte Dinge, die schon lange auf der Agenda stehen, anzugehen: Eine wirkliche Wirtschafts- und Währungsunion mit einem europäischen Finanzminister und einem Eurozonen-Parlament und einer Sozialunion mit der europäischen Arbeitslosenversicherung als wichtigstem Baustein. Es braucht eine europäische Legislative, die die Exekutive kontrolliert, sodass wir davon wegkommen, dass ein Finanzminister oder die Sachzwänge des Wirtschaftskorsetts des europäischen Semesters entscheiden.

Welche Fehler hat Macron bisher gemacht?

Guérot: Sein größter Fehler war es, nicht am Tag seiner Wahl den Ausnahmezustand aufgehoben zu haben. Das finde ich wirklich schändlich. Auch nicht so toll finde ich seine neogaullistischen Allüren, wie etwa im Schloss Versailles zum Parlament zu sprechen oder das Gerede von Jupiter Macron, dessen Gedanken zu komplex sind, als dass man sie in Interviews zum Besten geben könnte. Im Grunde will Macron offenbar sowohl die Zivilgesellschaft modernisieren, indem er neue Deputierte in die Nationalversammlung holt, aber gleichzeitig als abgehobener, respekteinflößender Präsident regieren.

Neumann: Vorschussbonus hat Macron sich keinen verdient, da er ja nun schon fünf Jahre mitregiert. Zunächst als Generalsekretär bei Staatspräsident François Hollande im Élysée-Palast. Dann später als Wirtschafts- und Finanzminister. Da ist er zwar dann abgesprungen, aber es wird heute vergessen, dass er lange Zeit Teil der Exekutive war. Er muss also die komplette verheerende ökonomische und soziale Bilanz von Hollande mit verantworten. Von daher habe ich den 8. Mai - also die Präsidentschaftswahlen - abgewartet, um das erwartete Ergebnis, dass die Rechtsradikalen nicht an die Macht kommen, vorbeigehen zu lassen. Am Tag nach dem Wahlsieg habe ich einen Text mit dem Titel "Die flüssige Bürokratie" veröffentlicht. Die flüssige Bürokratie ist für mich ein Prinzip des EU-Einigungsprozesses, spätestens seit der Lissabon Strategie von 2000, bekannt als Agenda 2010, jetzt ausgerufen als Agenda 2030 mit genau denselben Prinzipien und Prozeduren - von einigen institutionellen Details abgesehen. Es besteht ein ganz eklatanter Widerspruch zwischen der proeuropäischen Kommunikation Macrons und der Verschärfung nationalstaatlicher Souveränitätsfunktionen, die aus der französischen Geschichte als obrigkeitsstaatliche Souveränität hervorgegangen sind. Sprich: Es gibt eine deutliche Militarisierung - sowohl nach außen wie auch nach innen. Militärs patrouillieren heute in allen Flughäfen und Bahnhöfen und wir haben die permanente Legalisierung des Ausnahmezustands, die eine gravierende Aushebelung von Bürger und Freiheitsrechten bedeutet. Macron ist der oberste Befehlshaber der Armee und gleichzeitig aller Sicherheitsdienste, die jetzt im Antiterrorkampf in seiner Hand zusammengeführt werden. DArumc sprechen einige Politikwissenschafter von einer neuen Form des Bonapartismus, die wir da erleben. Gleichzeitig werden die nationalstaatlichen Garantien mit Verweis auf die EU eingeschränkt. Mich erinnert das an das Diktum von Pierre Bourdieu, nach der es die linke und die rechte Hand des Staates gibt. Die linke ist der Sozialstaat, der wird eingeschränkt, die rechte Hand ist Armee und Polizei - die werden gestärkt.

Guérot: Das sehe auch ich in der Tat sehr kritisch. Wenn man sich Zahlen ansieht, die der vergleichende Politikwissenschafter an der Harvard-Universität Yasha Mounk über Remilitarisierung oder autoritäres Verlangen, vor allem bei jungen Männern zwischen 18 und 25, zusammengetragen hat, dann kann man in den Zahlen von 2012-2015 herauslesen, dass sich das fast verdreifacht hat. Dieses Bedürfnis nach dem Autoritären geht bis hin in bürgerliche Kreise. Fast 70 Prozent der Franzosen haben in Umfragen gesagt, wir brauchen einen starken Mann. Macron bedient dieses Bedürfnis nach dem starken Mann. Man sollte vielleicht noch dazu sagen: Gott sei Dank ist es Emmanuel Macron und nicht Marine Le Pen.

Wie wird sich das deutsch-französische Verhältnis, das ja für die EU ganz zentral ist, nun entwickeln?

Guérot: Ich denke, es gibt in Deutschland ein gewisses Umdenken. Die liberale Wochenzeitung "Economist" hat vor ein paar Wochen die deutschen Exportüberschüsse mit dem Titel "The German Problem" thematisiert. Ich denke, dass da manchen dämmert, dass die Eurozone angesichts dieser Exportüberschüsse nicht vernünftig zu handhaben ist. Es gibt eben nicht nur das markt-Europa, sondern auch das soziale Europa und das demokratische Europa. Dafür gibt es jetzt einen Resonanzboden in Deutschland. Gleichzeitig steigt in Berlin die Bereitschaft, über gemeinsam aufgelegte deutsch-französische Staatsanleihen nachzudenken. Die Niederlande oder Belgien könnten da auch mit an Bord sein und - wer weiß, vielleicht auch Österreich. Also: Top, die Wette gilt! Das wird ein Drahtseilakt für Macron.

Wie sehen Sie Österreich? Besteht die Gefahr, dass die Alpenrepublik in den illiberalen Visegrád-Block abrutscht und dass der österreichische Bundeskanzler dann gemeinsam mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán und dem polnischen Strippenzieher Jarosaw Kaczynski am Katzentisch Europas sitzt?

Guérot: Wenn es zu einem Aufbrechen Europas entlang der politischen Störungslinien kömmt, dann ist das nicht undenkbar. In so einem Fall wäre eine Verengung auf ein von Frankreich und Deutschland dominiertes Mitteleuropa denkbar, eine engere Zusammenarbeit der Südeuropäer und ein osteuropäischer Block. Österreich muss sich in so einem Szenario dann die Frage stellen, wo es dazugehören will. Bedeutet das dann, dass man Osteuropa dem russischen Präsidenten Wladimir Putin preisgibt und Europa das Erbe von 1989 verspielt? Um in Osteuropa wieder zu einer neuen Dynamik zu gelangen, braucht es Angebote. Das Versprechen war immer: Ein europäischer Markt, eine europäische Währung, eine europäische Demokratie. In Westeuropa reden wir im Moment über das dritte Element, einer europäischen Republik. Die Osteuropäer sind gerade einmal beim ersten Element - dem gemeinsamen Markt - angekommen. Es war alles ja ganz anders geplant: Ungarn sollte 2008 zum Euro kommen, Polen 2011, wegen der Bankenkrise sind diese Ziele in weite Ferne gerutscht. Österreich spielt bei der Stabilisierung Europas eine wichtige Rolle, denn das Land hat eine Scharnierfunktion zwischen Mittel- und Osteuropa.

Wie geht es aus Ihrer Sicht mit Europa weiter?

Neumann: Zunächst stelle ich mir die Frage, woher eine politische Legitimität kommen kann, die eine europäische Demokratie fundiert - und zwar breitenwirksam im Gegensatz zur heutigen Situation. Der aktuelle Versuch ist eine Aktualisierung der Top-Down Strategie. Der alternative Versuch, der freilich heute utopisch klingt, wäre die Etablierung einer europäischen Verfassung.

Guérot: Die Perspektive kann nur sein: Wir begründen die europäische Demokratie neu. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger in einem politischen Konzept zusammenschließen, dann begründen Sie eine Republik. Die Grundsätze dieser Republik: Der Bürger ist der Souverän, es gilt der politische Gleichheitsgrundsatz und es gilt Gewaltenteilung. Der Verfassungsprozess musste tatsächlich eine Constituante sein und kein Top-Down-Verfassungskonvent. Da braucht es dann eben Fantasie, wie man unter den Bedingungen des 21 Jahrhunderts so etwas organisiert.

Gleichzeitig muss man konstatieren, dass es auf EU-Ebene gewaltige Demokratiedefizite gibt.

Guérot: Mir fällt dazu Pierre Rosanvallon ein, der in "Le sacre du citoyen" beschreibt, wie über den Prozess der allgemeinen gleichen und geheimen Wahlen sich ein politische Körper konstituiert, weil die Bürger sich im Wahlakt gleich fühlen vor dem Recht. Und das haben wir in der EU nicht, das haben wir auch im Europaparlament nicht. Deshalb ist das Europaparlament auch in den Augen des deutschen Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe kein richtiges Parlament, weil wir darin keine Proportionalität - eine Person, eine Stimme - haben.

Neumann: Sie wollen eine europäische Republik. Es gibt aber einen Unterschied zwischen Republik und der Demokratie. Ich stehe an der Seite der Demokratie.

Guérot: . . . und ich sage: Ich bin bei der Republik. Die Linke hat diese Idee von der Demokratie, schafft es abe nicht, das in ein politisches System einzubetten. Als nächstes kommt dann entweder Robespierre oder die Konterrevolution und damit ist nichts gewonnen. Dann rückt die Straße nämlich nach rechts. Die europäische Demokratiebestrebungen sollen somit nicht nur nur aus der linken Ecke kommen, weil ganz entspannt gesagt: die Republik ist für alle da. Die Republik heißt eigentlich nur: Liberté, Egalité, Fraternité.

Neumann: Heine hätte gesagt: "das Volk, der große Lümmel". Das Volk sollte in dieser Staatsform der Republik diszipliniert werden. Die Demokratie kann fundiert werden durch einen Akt der Selbstgründung, also durch eine verfassungsgebende Versammlung wie zu Beginn der Weimarer Republik, wo alle Staatsfunktion außer Kraft gesetzt werden. Während die Republik ansetzt an der Staatsorganisation von Napoleon und das Proletariat und andere Minderheiten ausschließt, wie das jetzt aktuell auch wieder der Fall ist. Und das ist der Knackpunkt.

Guérot: Soll denn Demokratie die Mehrheit der Straße sein? Am Ende steht dann "Animal Farm", wo einige gleicher sind als die anderen.

Wichtige Fragen - etwa jene des Wirtschaftssystems - sind der demokratischen Kontrolle entzogen.

Guérot: Res publica heißt für mich auch die Organisation des Gemeinwohls. Was wir heute als Liberalismus verstehen war bei den Denkern von John Locke bis Adam Smith ganz anders gedacht. Da ging es auch immer auch um die soziale Komponente. Liberalismus heißt ja nicht, dass jeder tun machen kann, was er will. Dazu kommt: Eigentum verpflichtet. Das Unvermögen in der Bundesrepublik Deutschland Vermögenssteuern einzuführen, ist eben nicht republikanisch. Und dass der republikanische Freiheitsbegriff Bildung und soziale und politische Teilhabe zur Voraussetzung hat, damit man als Bürger souverän an dieser Republik teilnehmen kann, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Wenn wir die Demokratie neu erfinden wollen, dann müssten wir auch ein dem Gemeinwohl wieder zugewandtes Wirtschaftssystem miterfinden. Das können wir jetzt hier nicht in drei Sätzen verhandeln, aber da kann man einiges anführen, was unsere eigene Kultur-und Geistesgeschichte alles schon hervorgebracht hat. Die Genossenschaften oder die katholische Soziallehre. Wir brauchen eine Debatte darüber, wie wir das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit im republikanischen Sinne wieder neu zusammenbringen. Nicht umsonst hat der französische postmarxistische Denker Étienne Balibar sein Buch mit dem genialen Kompositum "Gleichfreiheit" übertitelt.

Neumann: Diese Frage hat die Republik auf ihre Weise beantwortet. Denn in der Verfassungsdebatte nach der französischen Revolution stellte sich die Frage, ob Produzenten - Bauern oder Handwerker sich assoziieren dürfen - sprich Gewerkschaften gründen. Die Gesetzesgeber entscheiden damals: eher nicht. Da ist also der Wurm schon drin. Die Gewerkschaftsrechte wurden in Frankreich erst später durch Generalstreiks erreicht.

Guérot: Der liberale deutsche Politiker Walther Rathenau wollte Vermögens und Erbschaftssteuer von 50 Prozent. Demokratie kann nur funktionieren, wenn wir Verteilungsgerechtigkeit haben, war das Credo der damaligen Liberalen und Konservativen.

Neumann: Heutzutage findet diese Debatte vor dem Hintergrund einer Welt der kapitalistischen Globalisierung und der grenzenlosen Konkurrenz statt. Die Antwort lautet heute Abschottung und eine Politik der Militarisierung statt einer Politik der Kooperationsbeziehungen.

Guérot: Dazu kommt, dass in den nächsten Jahrzehnten eine riesige Anzahl von Arbeitsplätzen durch Automatisierung und IT verlorengehen. Aber wie werden wir eine Gesellschaft organisieren, die nicht mehr so wie heute um die Arbeit kreist? Und werden wir wie die Tiere übereinander herfallen, im Kampf um den letzten Arbeitsplatz?

Zu Den Personen:

Alexander Neumann

ist Soziologe und Professor an der Université Paris. Er sitzt im Herausgeberkomitee mehrerer einflussreicher Fachzeitschriften und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der kritischen Theorie (Frankfurter Schule) in Frankreich. Neumann war ein Schüler des deutschen Sozialphilosophen Oskar Negt.

Ulrike Guérot

ist eine deutsche Politikwissenschafterin und Publizistin. Sie ist Professorin für Europapolitik an der Donau-Universität Krems und Gründerin des "European Democracy Lab" in Berlin, wo sie zur Zukunft der europäischen Demokratie forscht. Ihr jüngst erschienes Buch trägt den Titel "Der neue Bürgerkrieg".