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"Integration und Islam zu lange ignoriert"

Von Siobhán Geets

Politik

In den islamischen Gruppierungen Europas gebe es ein Sicherheitsproblem, sagt Seyran Ates.


In der Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee sind alle willkommen: Männer wie Frauen, Schiiten wie Sunniten, Atheisten, Andersgläubige und Homosexuelle. Frauen müssen kein Kopftuch tragen und dürfen mit Männern gemeinsam beten. Auch Imaminnen soll es geben. Das passt vielen nicht. Seit der Eröffnung im Juni erhält die Rechtsanwältin und Mitgründerin der Moschee, Seyran Ates, Morddrohungen. Sie steht rund um die Uhr unter Personenschutz. Auch in den traditionellen Alpbacher Bögnerhof, am Rande des Europäischen Forums Alpbach, kommt sie in Begleitung. An den beiden Tischen um sie herum sitzen einige Leibwächter. Ohne sie kann Ates das Haus nicht mehr verlassen.

"Wiener Zeitung":Nach dem Attentat in Barcelona meinten Sie, solche Anschläge hätten durchaus etwas mit dem Islam zu tun. Widersprechen Sie der These, dass viele Terroristen nur oberflächlich Kenntnis vom Islam haben?

Seyran Ates: Natürlich! Das sind kontraproduktive Schutzbehauptungen. Es hat uns unglaublich geschadet, dass so viele muslimische Verbände immer wieder betont haben, das hätte nichts mit dem Islam zu tun, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Wir müssen als Gemeinschaft gegen diesen Extremismus kämpfen. Für mich war die Gründung der Moschee auch deshalb notwendig. Wer sieht, wie sich Männer und Frauen in den Moscheen und Korankursen radikalisieren, muss diese Leute outen und konfrontieren. Und noch etwas: Es hat sich ein sogenannter Islamischer Staat gebildet, es gibt eine Islamische Republik Iran und ein islamisches Saudi-Arabien. Wenn wir nach der europäischen Maxime vorgehen, alle, die im Namen der Religion Gewalt anwenden und gegen unsere Menschenrechte verstoßen, abzulehnen, würden wir kein einziges islamisches Land akzeptieren. Dann müssten wir sagen: Das hat alles nichts mit dem Islam zu tun. Das ist denklogisch falsch. Wer entscheidet darüber, wer Moslem ist? Diese Menschen halten die fünf Säulen des Islam ein: Das Glaubensbekenntnis, sie beten fünf Mal am Tag, sie spenden, sie fasten. Die allermeisten dieser Islamisten waren in Mekka. Sehr viele der Muslime, die behaupten, das wären keine, haben selbst noch nicht einmal die Hälfte dieser fünf Säulen erfüllt.

Um den politisch-ideologischen Islam zu bekämpfen, wollen Sie auch mit Konservativen und Fundamentalisten zusammenarbeiten, solange sie nicht gewalttätig sind. Wie soll das funktionieren? Sind islamische Fundamentalisten nicht immer Islamisten, also Vertreter des politischen Islam?

Nein, eben nicht. Es gibt auch Salafisten, die keine Extremisten sind und sich gegen Gewalt aussprechen.

Aber eine Trennung von Staat und Religion werden auch die nicht wollen.

Dabei handelt es sich natürlich um eine Minderheit. Als liberaler Mensch muss ich da offen sein. Wenn jemand fundamentalistische Vorstellungen hat, gewaltfrei ist und Staat und Religion trennen will, dann kann ich nicht Nein sagen. Wir können den politischen Islam nur zusammen mit den Konservativen bekämpfen. Ich wünsche mir, dass Konservative aufhören zu leugnen, dass das alles mit dem Islam zu tun hat. Sie sind in der Verantwortung, denn teilweise werden gerade in ihren Reihen Menschen radikalisiert. Wenn da Leute aus den Moscheen in Syrien landen, dann müssen sich die Gemeinden die Frage stellen, was sie übersehen haben.

Fragen sich das die Betroffenen auch?

Ich glaube, sie fragen es sich, verharmlosen es aber oder sind gar mit der Ideologie einverstanden. Das ist meine Unterstellung: Dass ein Teil der Konservativen das begrüßt und befürwortet und deshalb nicht mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeitet. Wir haben in der islamischen Community ein Sicherheitsproblem, das wir bearbeiten müssen. Das heißt nicht, dass wir in die Religion eingreifen oder der gesamte Islam ein Problem ist. Muslime sind ja sehr viel häufiger davon betroffen.

Die meisten Opfer von Anschlägen durch Islamisten sind Muslime.

Und deshalb müssen die Konservativen erst recht aufstehen und sagen: Wir müssen unsere Schwestern und Brüder im Glauben schützen.

Sie haben die europäische Bürgerinitiative www.stopextremism.eu ins Leben gerufen und die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin mitbegründet, die für einen säkularen Islam steht, lassen sich zur Imamin ausbilden. Seither erhalten Sie wieder Morddrohungen. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus, dass sich ein aufgeschlossener, liberaler Islam in Europa durchsetzen lässt?

Ich arbeite seit acht Jahren an der Idee der Moschee und setze mich seit mehr als 30 Jahren mit Frauenrechten in der islamischen Community auseinander. Ich weiß, dass dort der Kern des Problems liegt; ich habe mit vielen Menschen gesprochen. Nach dem Arabischen Frühling ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Es wurde deutlich, dass die Menschen es leid sind, so ein Leben zu führen - in wirtschaftlicher Abhängigkeit von der westlichen Welt. Die muslimischen Jugendlichen sind es leid, reglementiert zu werden, kontrolliert in ihrem Privatleben und in ihrer Sexualität. Die islamischen Länder kümmern sich mehr darum, Frauen zu verhüllen, als um technischen und wirtschaftlichen Fortschritt. Es herrscht ein Bedürfnis nach Veränderung. Als wir die Moschee eröffneten, haben wir von überall Unterstützung bekommen: Wir sind ein Hoffnungsprojekt für die ganze Welt.

Auf der anderen Seite stehen die hunderten Drohungen, die Sie bekommen haben. Können Sie einschätzen, von wem sie ausgehen?

Wir kommen nicht an alle ran. Wer seine Identität preisgibt, bekommt eine Anzeige, aber viele benutzen falsche Identitäten.

Türkische regierungsnahe Zeitungen und der türkische Islamverband in Deutschland - Ditib - hetzen gegen Sie.

Ein regierungsnaher Sender hat Fake News über uns verbreitet: Frauen mit Kopftuch sei der Zutritt untersagt, es handle sich um eine Fethullah-Gülen-Moschee und wir würden den Koran mit Füßen treten und ihn daher herabwürdigen. Die Diyanet, das türkische Amt für Religionsangelegenheiten, hat ein Schreiben ausgeschickt, dass wir ein Fethullah-Gülen-Verein wären und keine Moschee. Davon kann die in Abhängigkeit zu Diyanet stehende Ditib in Deutschland nicht abrücken. Im Fernsehen haben sie immerhin gesagt, dass sie die Gewalt gegen uns ablehnen, auch, wenn sie nicht damit einverstanden sind, was wir machen.

Sie haben am Integrationsgipfel der Bundesregierung teilgenommen und waren Mitglied der Islamkonferenz. Was raten Sie der Politik?

Die europäischen Länder haben einen großen Fehler gemacht: Sie meinten, die Integration von Migranten sei ein nationales Problem. Dabei sind die Probleme ähnlich. Diese fehlende Kommunikation in Fragen der Integration und des Islam fliegt uns jetzt um die Ohren. Es hätte schon längst, spätestens nach dem 11. September 2001, eine europäische Islamkonferenz und einen europäischen Integrationsgipfel geben müssen. Es gibt einen europäischen Islam; den gilt es zu unterstützen.

Sie empfehlen der Politik, bei der Unterstützung muslimischer Vereine genauer hinzusehen. Wieso?

Diese Vereine werden zum Teil vom Ausland finanziert. Das zu stoppen, ist eines der Ziele der Europäischen Bürgerinitiative "Stop Extremism". Die Politik hat bestimmte Vereine unterstützt und oft in der Arbeit gegen Radikalisierung den Bock zum Gärtner gemacht. Die waren einfach froh, dass sich jemand um die Seelsorge in den Justizanstalten kümmert, und haben nicht gesehen, was da passiert.

Sie sind eine Aufsteigerin, haben sich hochgekämpft. Was würden Sie jungen Menschen mit Migrationshintergrund auf den Weg geben?

Ich bin mit sechs Jahren nach Deutschland gekommen und habe schon in der Grundschule erkannt, dass Wissen Macht ist. Es gibt Menschen die Möglichkeit, mitzureden. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft; wer Leistung bringt, wird anerkannt. Damit kann man Hürden wie Ausländerfeindlichkeit und Rassismus überwinden, weil man auf eine Ebene mit Menschen kommt, die ähnlich denken. Da ist es keine Frage mehr, ob du aus Ghana oder aus China kommst, man begegnet sich auf Augenhöhe. Ich rate jungen Menschen, trotz der Tendenzen nach rechts, die es überall gibt, nicht aufzugeben. Die große Mehrheit der Europäer sind Erben der Französischen Revolution und interessiert an einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft.

Sie raten jungen Migranten, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Doch fühlen sich viele von ihnen in keinem Land richtig zu Hause, werden nicht als vollwertige Bürger akzeptiert. Wie sollen sie sich da entscheiden?

Ich rate jedem, der aus der Türkei kommt, sich genau anzusehen, ob es etwas geben könnte, wo sie mit der türkischen Regierung in Konflikt geraten könnten. Gegebenenfalls sollten sie sich für die andere Staatsbürgerschaft entscheiden. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist bei den aktuellen Entwicklungen in der Türkei ein Problem für Menschen, die sich kritisch äußern - wenn auch nur in den sozialen Medien. Es kann ihnen passieren, dass sie an der Grenze aufgehalten werden und Österreich oder Deutschland nichts mehr für sie tun kann.

Ich empfehle jungen Menschen auch, sich für ein politisches System zu entscheiden. Wenn sie meinen, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierungspartei AKP ihr System sind, dann sollen sie die Türkei für sich wählen. Sobald man sich für ein Land entschieden hat, kann man sich besser engagieren. Ich bin dazu gelangt zu sagen, in Deutschland Verfassungspatriotin und ausschließlich deutsche Staatsangehörige zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass ich die türkische Identität abgebe; denn die habe ich trotzdem.

Sie raten den Jungen zu Verfassungspatriotismus. Nur können etwa in Österreich viele Pflichtschulabsolventen nicht sinnerfassend lesen, 35 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund erreichen hier nicht die Bildungsstandards. Wie sollen sie sich ausreichend über Demokratie und Menschenrechte informieren?

Das lässt sich anhand von Beispielen erklären. Grundrechte und Grundfreiheiten beeinflussen den Alltag. Man muss im Kindergarten damit anfangen, den Kindern beizubringen, was Menschenwürde, Gleichberechtigung der Geschlechter, Religionsfreiheit bedeuten. Wir feiern gemeinsam Feste, akzeptieren uns gegenseitig, das kann man spielerisch erklären. Die Idee der transkulturellen Identität bedeutet, allen alles beizubringen. Sowohl den Menschen, die nach Österreich kommen, als auch jenen, die schon lange da sind. Die wenigsten Jugendlichen wissen, was in der Verfassung steht. Wenn die Rechten das nun zu bedienen versuchen, begreifen sie doch nicht, welche Werte sie überhaupt meinen - außer der Frau im Minirock. Sie sagen nicht, dass es ihnen um die Menschenwürde geht. Ich kämpfe nicht für den Minirock, sondern für die Freiheit zu entscheiden, was jemand trägt.

Dennoch sprechen Sie sich gegen das Kopftuch aus und vertreten das Land Berlin im Prozess mit klagenden Lehrerinnen, die darauf bestehen, es im Unterricht zu tragen. Was haben Sie gegen diese Kopfbedeckung?

Ich habe sehr viel dagegen. Das Kopftuch ist kein religiöses Symbol, es gehört nicht zu den fünf Säulen des Islam. Im privaten und öffentlichen Raum habe ich kein Problem damit, aber wenn es eine Amtsperson trägt, vor allem in der Schule - dann durchaus. Lehrerinnen, Richterinnen, Polizistinnen sind Stellvertreterinnen des Staates. Erlaubt er ihnen, das Kopftuch zu tragen, positioniert sich der Staat hinter einer gewissen traditionellen Lesart des Koran. Dabei sollte er sich neutral verhalten, das ist gerade für multikulturelle Gesellschaften wie Berlin wichtig.

Das Neutralitätsgesetz besagt: Keine religiösen Symbole, davon ist die Kippa genauso betroffen wie die Nonnentracht und das Kopftuch. Zudem betrifft dieser Konflikt die gesamte islamische Welt - Staaten wie der Iran und Saudi-Arabien zwingen Frauen, das Kopftuch zu tragen. Wer es zulässt, nimmt Position für diese Lesart ein. Davon sollte sich der Staat fernhalten.

Zur Person

Seyran Ates

wurde 1963 in Istanbul geboren und kam mit sechs Jahren nach Deutschland. Die Juristin und Autorin befasst sich mit Straf- und Familienrecht. 1984 bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt, ließ sie sich nicht davon abbringen, sich für Frauenrechte einzusetzen. 2009 zog sie sich wegen Morddrohungen nach Erscheinen ihres Werks "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurück. Mit der Bürgerinitiative www.stopextremism.eu will sie die EU-Kommission dazu bewegen, ein Gesetz gegen Extremismus zu erlassen.