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Fakten gegen Fake News

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

In Finnland entwickelte sich früher als woanders ein Bewusstsein für Fake News. Warum man gelassener mit russischer Propaganda umgeht.


Helsinki. Es ist eine kalte Samstagnacht im Dezember 2016. In Imatra, einer finnisch-russischen Grenzstadt, nimmt ein junger Mann ein Gewehr, steigt in sein Auto und fährt in die Stadt. Als drei Frauen ein Restaurant verlassen, drückt er ab. Sie sind auf der Stelle tot.

Schnell verbreiten sich in den sozialen Medien Gerüchte: Ein finnischer Offizier, der gezielt drei Russinnen getötet hat. Ein Twitter-Account namens "Imatra News" wendet sich direkt an russische Medien, wie den staatlichen Auslandssender RT (Russia Today). Doch die Meldungen sind falsch: Es hat zwar einen Mord gegeben, doch die Todesopfer sind Finninnen, eine davon ist Lokalpolitikerin. Der Täter ist ein 23-jähriger Mann aus Imatra. Unzurechnungsfähig statt radikal und russophob, wird die finnische Polizei später erklären.

Hätte es ein "Fall Lisa" werden können, wie wenige Monate zuvor in Berlin? Jene Falschmeldung über die Vergewaltigung eines deutsch-russischen Mädchens, über kremlnahe Medien verbreitet, die tausende Russen in Deutschland auf die Straßen trieb? Heute lässt sich das schwer sagen. "Wir haben die Story gekillt", sagt jedenfalls Markku Mantila. Noch in der Nacht hätte ein Beamter in Helsinki die Meldungen auf Twitter richtiggestellt. Auf Finnisch, Englisch und Russisch.

Wirbel um Sorgerechtsfall

Dass gezielt Falschmeldungen gestreut werden, um Finnen und Russen gegeneinander aufzubringen, ist nicht neu. Bereits 2010, noch lange, bevor im Westen von "Fake News" und einem "Informationskrieg" mit Russland die Rede war, machten in russischen Medien Falschmeldungen über einen Sorgerechtsfall die Runde. Der Vorwurf: Finnische Behörden hätten einer russischen Mutter zu Unrecht das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen. Während das Jugendamt die Familienverhältnisse noch prüfte, wurden die finnischen Behörden in russischen Medien schon als "Russenhasser" porträtiert. Der Fall ging sogar so weit, dass der russische Ombudsmann für Kinderrechte nach Finnland reiste.

Das hat die Finnen wachsam gemacht: Als 2014 infolge der Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine eine russische Propagandawelle über Europa schwappte, rief Markku Mantila, damals Sprecher des finnischen Premiers, einen Krisenstab ins Leben. 23 "Informationsattacken" gegen Finnland haben Mantilas Kollegen seither gezählt, bei denen sie sicher sind, dass sie von Russland aus gesteuert wurden.

Doch nicht immer ist der Fall so eindeutig, wie in Imatra. Max Arhippainen sitzt in der Mensa des Verteidigungsministeriums, nebenan schlürfen die Soldaten ihre Mittagssuppe. Das Ministerium erzählt selbst ein Stück finnischer Geschichte: Das dreistöckige, gelb gestrichene Palais mit der feinen Stuckatur könnte genauso gut im knapp 390 Kilometer entfernten Sankt Petersburg stehen. Das Gebäude wurde zu Zarenzeiten erbaut, als Finnland noch als Großfürstentum Teil des Russischen Reiches war. Zu Sowjetzeiten eng mit Moskau verbunden, ist Finnland heute jedoch Mitglied der EU und Eurozone. Obwohl kein Nato-Mitglied, weht im Innenhof die Nato-Fahne, als Zeichen der engen Kooperation mit dem westlichen Bündnis.

Arhippainen ist Sprecher des Verteidigungsministers und selbst Gründungsmitglied des Krisenstabs. Ein Kernteam von 20 Beamten aus allen Ministerien, der Polizei, der Armee und der Präsidialverwaltung kommt regelmäßig zusammen, um den russischen "Informationseinfluss" - den Ausdruck "Informationskrieg" lehnt Arhippainen als zu martialisch ab - zu besprechen. Rund 100 Beamte wurden außerdem seit 2016 von Harvard-Experten im Umgang mit Fake News ausgebildet. Die Grundregeln zählt er an seinen Fingern ab: Bewusstsein für das Phänomen zu schaffen, sowohl in Amtsstuben als auch in der Gesellschaft. Und Falschmeldungen so schnell wie möglich aus der Welt schaffen.

Jeder Fall ein Fall für sich

Doch der Kampf gegen "Fake News" ist oft auch ein Ritt auf einem schmalen Grat. Was, wenn es nicht einfach um Fakten, sondern um Debatten geht, die kontrovers geführt werden müssen? "Unsere Aufgabe ist es nicht, die Meinungspolizei zu spielen", sagt Arhippainen. "Sondern zu unterscheiden: Was ist eine legitime politische Position und wo werden Informationen gezielt eingesetzt, um finnische Interessen zu schädigen?" Er bringt als Beispiel ein Zitat des früheren Luftwaffenchefs: "Es ist schwieriger, die Hälfte unserer Kampfflieger abzuschießen, als die öffentliche Meinung so zu manipulieren, dass sie erst gar nicht angeschafft werden."

Die Gewissheit, dass eine "Informationsattacke" direkt aus dem Kreml kommt, gibt es freilich nie. Wo hört dann die Propaganda auf, wo beginnt die Paranoia? Kochrezepte gibt es keine; Jeder Fall müsste einzeln analysiert, abgewogen, eingeordnet und auch öffentlich diskutiert werden, sagt Arhippainen. Was fällt auf? Wo gibt es Muster, ein System?

Dass die finnische Regierung nicht einfach nur nach Phantomen jagt, zeigt der Fall Jessikka Aro. Als die Journalistin des Staatsfunks Yle im September 2014 begann, über eine Trollfabrik in St. Petersburg zu recherchieren, geriet sie selbst ins Visier der Propaganda. Sie erhielt Todesdrohungen, wurde als "Medienhure", "Drogendealerin" oder "geisteskrank" geschmäht. In einer Facebook-Gruppe wurde dazu aufgerufen, sie mit Uran zu vergiften. Sie erhielt eine SMS im Namen ihres Vaters, der jedoch schon 20 Jahre zuvor gestorben war: Er sei nicht tot, sondern "beobachte sie", hieß es da. "Die Trolle haben mein Leben in eine Hölle verwandelt", sagt die 36-Jährige heute.

Eine Schlüsselfigur in der Causa: der finnische Aktivist Johan Bäckman, der Aro als westliche Spionin beschimpfte. Beweise, dass der Finne direkt mit dem Kreml verbunden ist, gibt es freilich nicht. So waren es aber gerade russische Staatsmedien, die Bäckman eine Bühne für seine Hetze gegen Aro geboten haben. Auf der Homepage des "Russian Institute of Strategic Studies", das mit dem russischen Geheimdienst verbunden sein soll, wird er zudem als Vertreter in Helsinki geführt. Doch Aro ließ sich nicht einschüchtern, sondern machte die Drohungen öffentlich. Der Fall wurde international bekannt, Aro mit Journalistenpreisen überhäuft. Wenngleich sie einen hohen Preis gezahlt hat, hat sie dafür gesorgt, die finnische Öffentlichkeit für die russische Propaganda zu sensibilisieren.

Dabei gelten die finnisch-russischen Beziehungen auch heute noch als gut. Selbst auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise 2014 reiste der finnische Präsident nach Sotschi zu seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin, kurz darauf wurde jener in Helsinki empfangen. In Finnland ist man um gute Beziehungen mit dem Nachbar, mit dem man immerhin eine 1300 Kilometer lange Grenze teilt, bemüht. Aber gleich drei Mal (1917, 1939 und 1941) führten Finnen und Russen im 20. Jahrhundert gegeneinander Krieg. Doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Finnland unabhängig und schloss 1948 einen Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion.

Bildung gegen Propaganda

So ist es aber gerade diese wechselvolle Geschichte, die Finnland "viel vertrauter mit den Kreml-Taktiken" gemacht hat als andere EU-Länder, sagt Jed Willard, Propaganda-Experte in Harvard. Willard hat zuletzt die finnische Regierung beraten, derzeit bildet er Beamte in Schweden aus. So hätten sich die Finnen schon früh auf gezielte Online-Falschmeldungen eingestellt, so Willard. Die Taktik scheint aufzugehen: Zuletzt wurde das finnische Büro der russischen Nachrichtenagentur Sputnik geschlossen.

Nicht zuletzt sei es aber vor allem das international gelobte Bildungssystem mit dem egalitären Anspruch, alle finnischen Kinder in Gesamtschulen gleich gut auszubilden, das die Angriffsfläche für gezielte Falschmeldungen verringert. "Gute Schulen und gute Lehrer sind die wichtigste Verteidigungslinie", sagt Mantila. Seit 2017 schreibt der finnische Lehrplan zudem Medienkompetenz schon ab dem frühkindlichen Stadium vor. Wer seine eigene Geschichte kennt und weiß, wie digitale Medien und Trolle funktionieren, ist letztlich besser gegen Propaganda geschützt, sind sich alle Experten einig.

So gilt auch im 21. Jahrhundert, dem vermeintlichen Zeitalter des "Postfaktischen", eine alte Weisheit: Bildung und Aufklärung sind immer noch die schärfsten Waffen im Kampf gegen Propaganda.

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