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"Europa hat wieder Wind in den Segeln"

Von Martyna Czarnowska

Politik

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker skizziert seine Pläne für Reformen in der Union.


Straßburg/Wien. Besser bedeutet nicht immer einfacher. Mit seiner Rede zur Lage der Union hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker heuer mehr Schwierigkeiten als im Vorjahr. Das räumte er selbst ein, als er vor das Plenum des EU-Parlaments in Straßburg trat. Dabei, führte er aus, war der Zustand der Gemeinschaft damals sogar schlechter. Angeschlagen und gebeutelt sei Europa gewesen, nach dem Referendum der Briten über einen EU-Austritt ihres Landes, vor Wahlen in mehreren Mitgliedstaaten mit ungewissem Ausgang, inmitten von Krisen und außenpolitischen Herausforderungen. Doch mittlerweile habe sich die Stimmung gedreht, die Wirtschaft lebe wieder auf, die Debatten über die Zukunft der Union hätten an Schwung gewonnen. "Europa hat wieder Wind in den Segeln", befand Juncker.

Das gelte es nun zu nutzen - und genau darin liegt das Problem. Denn an Ideen und Visionen für Reformen in der EU mangelt es nicht. Doch die Umsetzung erweist sich oft genug als mühsames Unterfangen. Konnte Juncker noch im Vorjahr die Einigkeit der Europäer beschwören, musste er dieses Mal darauf drängen, den nächsten Schritt von Bekenntnissen hin zu Taten zu setzen.

Dennoch verzichtete er heuer darauf, die Mitgliedstaaten offen dafür zu kritisieren, dass sie mit ihren Streitereien untereinander die Realisierung von Gesetzesvorhaben verhindern. Freilich könnte die Entscheidungsfindung einfacher gestaltet werden, meinte Juncker und hatte einen Vorschlag parat: Nicht bei allen wirtschafts- und außenpolitischen Fragen sollten die Minister Beschlüsse einstimmig fällen müssen. Stattdessen sollte eine qualifizierte Mehrheit genügen dürfen.

Die Kommission selbst will schon in den nächsten Tagen und Wochen ihren Beitrag dazu leisten, "den Kurs für die Zukunft" abzustecken. Ab dem heutigen Donnerstag werden die jeweiligen Kommissare die Initiativen für Handels- und Industriepolitik, zur Stärkung der Demokratie und für mehr Internet-Sicherheit präsentieren. Juncker selbst griff fünf Prioritäten aus dem Arbeitsprogramm der Brüsseler Behörde heraus. Drei davon, die Themen Stärkung der Wirtschaft, Bekämpfung des Klimawandels sowie Datenschutz und Abwehr von Cyberangriffen, streifte er lediglich.

Handel im Fokus

Mehr Raum gab er da schon der Handels- und Migrationspolitik. Dabei trug er Bedenken Rechnung, dass die EU einerseits offen für Handel, auf der anderen Seite aber mit teilweise aggressiven Methoden der Partner konfrontiert ist. Ohne China zu nennen, ging Juncker auf den Appetit ausländischer Staatsunternehmen ein, sich in Europa in Schlüsselbereiche einzukaufen. Als Antwort darauf schlug er die Einrichtung eines europäischen Instruments zur Überprüfung von Investitionen vor, wenn eine Firma wichtige Infrastrukturprojekte in der Energieversorgung oder Verteidigung übernehmen möchte.

Handelsabkommen wiederum sollten so transparent wie möglich verhandelt werden, forderte Juncker. Das soll die Gefahr mindern, dass sich ein Zwist wiederholt, an dem beinahe der Ceta-Vertrag mit Kanada gescheitert wäre. Das Abkommen ist erst nach langem Tauziehen und Zugeständnissen an einige Regionen in der EU unterzeichnet worden und soll ab kommender Woche vorläufig angewandt werden. Nun blickt die Kommission nach Australien und Neuseeland, mit denen sie jetzt Freihandelsgespräche aufnehmen möchte. Die Entwürfe für die Verhandlungsmandate werden öffentlich gemacht, versprach der Präsident.

Im Fokus müsse auch die Migration bleiben, erklärte Juncker. Zwar konnte die Zahl der Auswanderer, die über das Mittelmeer in Griechenland ankamen, deutlich gesenkt werden, doch seien weitere Maßnahmen nötig. Zum einen müssten Menschen, die kein Recht haben, in Europa zu bleiben, in ihre Länder zurückgebracht werden. Zum anderen müsste afrikanischen Staaten nicht zuletzt mit Geld geholfen werden, das aus einem Treuhandfonds fließen soll. Außerdem müssten Wege für legale Zuwanderung eröffnet werden - eine Idee, die immer wieder geäußert wird, aber bisher in etlichen EU-Ländern auf Widerstand gestoßen ist.

Die Flüchtlingskrise war es auch, die die Risse in der Union vertiefte. Vier Länder - Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Rumänien - hatten sich einem Beschluss der EU-Innenminister zur Umsiedlung zehntausender Asylwerber aus Italien und Griechenland widersetzt. Auch Polen weigert sich derzeit, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Debatte darüber gipfelte in scharfen Wortwechseln zwischen West- und Osteuropäern, in Drohungen und Beleidigungen.

Mahnung an die Türkei

Diese Bruchlinien wollte Juncker nicht weiter verstärken. Zwar kritisierte er - erneut ohne Ländernamen zu nennen - Ungarns Weigerung, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Verteilung von Asylwerbern zu respektieren mit den Worten: "Rechtsstaatlichkeit ist in der Europäischen Union keine Option. Sie ist Pflicht." Aber gleichzeitig warnte er vor einer Spaltung Europas und mahnte eine Diskussion ein, in der es Gleichberechtigung gebe - unabhängig von der Größe und geografischen Lage eines Mitglieds. So betonte der Luxemburger: "Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen, mit dem östlichen und dem westlichen." Andernfalls gerate es in Atemnot.

Damit erteilte der Kommissionspräsident Überlegungen zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten - in dessen Kern etwa das deutsch-französische Tandem die Richtung vorgeben könnte - eine Absage. Vielmehr sprach sich Juncker für eine Integration aller Staaten in die bestehenden Strukturen aus: Alle Mitglieder sollten der Eurozone beitreten, Bulgarien und Rumänien Teil des Schengenraums werden. Das sollte ebenfalls für Kroatien gelten, sobald das Land die Kriterien dafür erfüllt.

Parallel dazu lehnte Juncker neue Institutionen ab, die sich auf die Währungsgemeinschaft beschränken würden. Für diese sei weder ein separater Haushalt noch ein gesondertes Parlament notwendig. Stattdessen wäre eine "starke Eurozonen-Budgetlinie im Rahmen unseres EU-Haushalts" begrüßenswert. Und das EU-Parlament repräsentiere den Euroraum sowieso.

Mehr abgewinnen kann Juncker der Idee eines europäischen Wirtschafts- und Finanzministers, der aber Mitglied der Kommission sein sollte und auch den Vorsitz der Eurogruppe übernehmen könnte. Auch zwei weitere Funktionen könnten zusammengelegt werden: die des Kommissions- und des Ratspräsidenten. Europa wäre nämlich leichter zu verstehen, "wenn ein einziger Kapitän am Steuer wäre".

Dies sollte im Idealfall bis zu den Europawahlen im Frühling 2019 vorbereitet sein. Zu dem Zeitpunkt, nach dem Ausscheiden Großbritanniens, wird die EU 27 Mitglieder haben. Neue könnten erst später hinzukommen, meinte Juncker. Er nannte dabei die Staaten des Westbalkan, denen die Beitrittsperspektive erhalten werden sollte.

Für die Aussichten der Türkei hingegen fand der Kommissionspräsident andere Worte. Das Land entferne sich "seit geraumer Zeit mit Riesenschritten" von der Europäischen Union. Daher sei eine EU-Mitgliedschaft "in absehbarer Zukunft" auszuschließen.