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Die Zweifelsfreien

Von Wolf Lotter

Politik
Peter M. Hoffmann

Gastbeitrag: Deutsche glauben ans System. Österreicher eher an sich. Damit steht es aktuell 1:0 für Österreich.


Nicht alles, was richtig klingt, ist es auch. Ein schönes Beispiel dafür ist das Zitat "Nichts trennt Deutsche und Österreicher so sehr wie die gemeinsame Sprache". Meist wird es Karl Kraus zugerechnet, aber das stimmt auch nicht.

Der Satz legt nahe, dass sich Österreicher und Deutsche ohnehin nicht sehr unterscheiden würden. Verständigungsprobleme wären damit jene berühmten "Missverständnisse", mit denen Österreicher und Deutsche seit jeher ihre Angelegenheiten regeln.

Doch das ist falsch, eine "Sache, die so falsch ist, dass noch nicht einmal ihr Gegenteil richtig" sein kann - was übrigens ein weiteres vermeintliches Karl-Kraus-Zitat ist und übrigens auch nicht stimmt. Deutsche und Österreicher trennen nicht Nuancen, sondern Welten, und in einer Welt, in der es um Unterschiede und Differenz geht, wird der Abstand größer. Der Kern des österreichischen Codes ist bekanntlich das Schlampige, Unfertige. Man weiß, dass nichts perfekt ist. Der Kern des deutschen Codes ist das Extrem. Man glaubt so sehr an das System, dass man es mit sich selbst längst verwechselt.

Nun muss, wer ein System nutzt, es nicht zwangsläufig verinnerlichen. In Österreich und den meisten europäischen Ländern ist die Skepsis gegenüber Systemen stark ausgeprägt. Man lebt mit den Systemen, aber nicht für sie. Und erst recht versteht man sich nicht als Teil davon.

Fleiß und Ordnung lenken ab

In Deutschland glauben hingegen sogar die Systemkritiker an das System und fordern beständig den Ersatz des "alten Systems" durch ein "neues". Es geht um Ordnung. Um Mechanik. Wofür und wozu, das ist zweitrangig. Die Werbebehauptung einer Elektronikkette, "Alles eine Frage der Technik", ist ein Teil des deutschen Selbstverständnisses.

Wer diese Leitkultur nicht erkennt, dem fällt sie nur nicht mehr auf. Es ist kein Klischee. Glück ist ein Ergebnis von Übersicht. So lenken Fleiß und Ordnung von den wichtigen Aufgaben ab. In der Wissensgesellschaft, dem Zeitalter der Differenzierung, der Vielfalt und des Individuums, kann man kaum schlechtere Karten haben.

Das Denken kreist stets um Einheit. Zentrales. Gemeinsames - aber wo so viel vom "Wir" geredet wird, gibt es natürlich auch "die Anderen". Und die verstehen die deutsche Einheitswut als kleinen Angriffskrieg gegen ihr Menschenrecht, selbst Entscheidungen treffen zu dürfen, in Europa, im Büro, in der Öffentlichkeit.

Vielfalt aber gilt die heimliche Leitkultur als abweichendes Verhalten. Persönlichkeit als Egoismus. Interessen als unmoralischer Eigennutz.

Es waren immer die "Wir"-Idealisten und die Gemeinschaftsmoralprediger, die von deutschem Boden aus Unheil über die Welt - und sich selbst - gebracht haben, aber das ist im kollektiven Gedächtnis nur unzulänglich verankert. Die deutsche Krankheit heißt Kollektivismus. Sie ist chronisch.

Sie verhindert die weitere Entwicklung.

In der Wissensgesellschaft, die überall anbricht, helfen solche DIN-Normen des neuen Anstands und der moralisierenden Korrektheit nicht weiter. Wer Diversity sagt, muss auch Unterschiede machen. Wer das nicht tut, heuchelt bloß Veränderung. Man wünscht den Deutschen also Zweifel an den Hals, wenn man es mit ihnen gut meint. Zweifel sind der Weisheit Anfang, damit eröffnete Rene Descartes die Aufklärung.

Wer zweifelt, weiß auch nicht, was kommt, kann nicht sicher sein, wie es wird - aber hat immerhin verstanden, dass es nicht so weitergeht wie bisher. Man irrt sich voran. Das ist die Wirklichkeit.

Die Scheinwirklichkeit wird von Scheinsicherheiten ausgestaltet. Das Wir hat nur einen Zweck: Dass die Persönlichkeit durch die Institution ersetzt wird, im Fall des Scheiterns nicht "schuld" ist. Die Folgen sind fatal: Man darf nicht sein, wer man ist, aber man will auch nicht sein, wer man sein könnte. Die Österreicher lassen sich gerne antiteln, Herr Doktor, Frau Professor, Herr Magister. Aber sie meinen es nicht so. Wer in Deutschland jemanden beim akademischen Namen nennt, wird gleich zurechtgewiesen, man heiße Mayer, Schmidt, Müller, aber wehe, man vergisst den Professor, Doktor, Vorstandsvorsitzenden. Das ist die Hidden Agenda des Selbst in dieser institutionellen Kultur. Adorno hat sich geirrt. Es gibt ein richtiges Leben im falschen. Es ist nur nicht echt. Kein Original, eine Kopie.

Deutschlands Identität, wie wir und die Deutschen sie kennen, ist das Produkt der Industrialisierung, in der Preußen zur Hegemonialmacht aufstieg. Die Kleinstaaterei wurde als Trauma empfunden. Deshalb der Einheitstick. Industria ist lateinisch für Fleiß. Mit Fleiß ins Kollektiv.

Fleiß ist tückisch. Er funktioniert nur in Verbindung mit Routinen und Unter-Ordnungen. Wer fleißig ist, läuft mit. Wer fleißig ist, fügt sich und tut, was man ihm sagt. Das ist von gestern.

In der Wissensökonomie, die auf Innovationen baut, geht es um persönliches Wissen, den "Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen", wie Kants Antidot zum deutschen Untertanen lautet. Europa sucht sich in Zeiten der Krise neu. Man wird sehen. Aber ein Plan wird sich dabei nicht erfüllen. Man muss auch richtig scheitern können. Dem sind die Österreicher näher. Sie wissen, dass man in und durch die Niederlage siegen kann. Das Ende des Kaisertums war der Anfang einer glänzenden Karriere im Fremdenverkehr. Das können nicht alle über ihre ehemaligen Regime sagen.

Auch sonst kann der Untergang ein Glück sein. Dass die Industrie in Österreich fast zur Gänze "verstaatlicht" war und lautstark scheiterte, spricht dafür. Das Ende der Industriegesellschaft war ein öffentlicher Schauprozess, der in Deutschland nicht geführt wurde - und nach wie vor verhindert wird.

Deshalb gibt man der Digitalisierung, die eine Superautomation ist und die Routinearbeit von Menschen weitgehend ersetzen wird, den albernen Namen "Industrie 4.0". Ohne die mechanistische Produktionsweise ist also keine Identität vorstellbar. Doch eine Fabriksgesellschaft mit Internetanschluss wird nicht funktionieren. Man macht sich Illusionen. Die wirtschaftliche Stärke Deutschlands baut auf sozialer und kultureller Nostalgie, industriellen Klischees. Das wird nicht halten.

Die Ruhe ist trügerisch

Unter Willy Brandt und Gerhard Schröder wurde mehr über Transformation nachgedacht als in der großen Koalition Angela Merkels. Die Ruhe ist trügerisch. Es braucht tiefe Zweifel, von selbstbewussten Zweiflern. Aber wer lässt schon los, was ihn im Innersten zusammenhält, auch wenn es eine Illusion ist? Nichts ist gefährlicher als die Erfolge von gestern - dieser Satz des Innovationsforschers Erich Staudt, gemünzt auf sein Land, gilt bis heute. Das Quadratisch, Praktisch, Gute hatte seine Zeit. Heute geht es um Neuland, da muss man improvisieren lernen. Perfektionisten sind schlechte Neudenker. Dazu muss man aber erst wissen wollen, wer man ist, und nicht, wer man sein darf. Selbst-Bewusstsein. Lockermachen. Entspannen. Neu anfangen.

Das geht nicht in großen Würfen, nach Masterplan, sondern kleinweise, Stück für Stück, voran, wie Karl Popper uns gelehrt hat. Die offene Gesellschaft hat keinen Bauplan, liebe Deutsche, sie hat keine Vision, keine Utopie, sie wurstelt sich durch. Und wenn sie sich nicht durchwurstelt, ist sie keine offene Gesellschaft mehr.

Die Welt braucht gerade nicht die Verspannten, sondern die Lockeren. Dazu muss man vielleicht über seinen Schatten springen, auch wenn der rechteckig ist. Vielleicht hilft ein echter Karl Kraus dabei: "Hüten wir uns, aus Schaden dumm zu bleiben." Und liebe Österreicher, bevor ihr lacht: Das gilt grenzüberschreitend.

Immer. Und überall.

Wolf Lotter, Jahrgang 1962. Geboren und aufgewachsen ist er in Österreich, seit Jahrzehnten lebt und arbeitet er in Deutschland. Er ist Mitbegründer des Wirtschaftsmagazins "brand eins" und schreibt dort die Einleitungen, die Leitartikeln, zu den Themenschwerpunkten. Er hat zahlreiche Bücher verfasst (etwa "Zivilkapitalismus. Wir können auch anders". Pantheon, 2013) und arbeitet zurzeit an einem Buch zum Thema Innovation der Innovation, das im Frühjahr 2018 erscheinen wird.