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Spätes Erwachen

Von Alexander Dworzak

Politik

Analyse: CDU/CSU und SPD sind nicht erst bei der Wahl am Sonntag, sondern in den vergangenen 15 Jahren stark geschrumpft.


Berlin/Wien. Politische Zäsuren verlaufen uneinheitlich. Manche kündigen sich lange an, wie die Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten 2008. Andere passieren völlig überraschend. Das Attentat auf John F. Kennedy 1963 gilt als Paradebeispiel. Und dann gibt es unwahrscheinliche Umbrüche. Etwas liegt in der Luft, aber scheint zu weit weg, um doch einzutreten. Wie das Brexit-Votum im vergangenen Jahr. Weder Meinungsforscher noch die, die es wissen müssten, nämlich die Buchmacher, lagen richtig.

Auch der 24. September war ein solcher Tag: Alle Beobachter der deutschen Politik wussten, dass die AfD bei der Bundestagswahl mehr als zehn Prozent erringen und beste Chancen auf Platz drei haben wird. Als eintrat, was erwartet wurde, gaben sich die Politiker der anderen Parteien überrascht und entsetzt. Ob elf Prozent wie prognostiziert für die verbalrabiaten Rechtspopulisten oder 12,6 Prozent wie beim Votum erreicht, ist einerlei. Der wahre Umbruch findet gerade bei den Volksparteien CDU/CSU und SPD statt. Deren Absturz wiegt viel schwerer - und kein Demoskop hatte ihn vorausgesagt. Letztverfügbare Umfragen vor der Wahl sahen die drei Parteien gemeinsam bei 59 Prozent. Geworden sind es 53,5 Prozent.

Merkels neue Rolle: Gestalten

Noch vor 15 Jahren machten mehr als drei Viertel der Deutschen ihr Kreuz bei den traditionellen Parteien links und rechts der Mitte. SPD und Union erhielten damals jeweils 38,5 Prozent. 2002 fand die bisher letzte Bundestagswahl statt, bei der Angela Merkel nicht als Spitzenkandidatin der Konservativen angetreten ist. Die seit zwölf Jahren amtierende Kanzlerin weist eine äußerst schwache Wahlkampfbilanz auf. Unter ihr verlor die Union 2005, 2009 und 2017 Prozentpunkte im Vergleich zur Wahl davor. Den fulminanten Sieg 2013 verdankte Merkel einer FDP auf Selbstzerstörungstrip; bürgerliche Wähler liefen in Scharen zu CDU/CSU über.

Dennoch könnte Merkel, sofern sie nun das Jamaika-Bündnis mit FDP und Grünen schmiedet, mit Helmut Kohl gleichziehen und 16 Jahre im Amt bleiben. Dafür muss die Kanzlerin nachholen, was sie über Jahre vermissen ließ: Gestaltungswillen. Wenn weltpolitisch Stürme toben, fühlen sich die Deutschen zwar noch immer gut bei ihr aufgehoben. Aber mit ihrem Flüchtlingskurs konterkarierte sie ihre eigene Politik der ruhigen Hand. Merkel und ihr Kanzleramtsminister Peter Altmaier haben den Bogen überspannt: "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" war als Wahlkampfmotto zu dünn.

Knackpunkt TV-Duell

Martin Schulz warf der Kanzlerin am Wahlabend vor, sie hätte einen "skandalösen Wahlkampf geführt". Dabei trat er selbst zahnlos im TV-Duell mit Merkel vor drei Wochen auf. Schulz wirkte, als ob er sich als Außenminister unter Merkel bewerben würde. Anstatt die Debatte für eigene Schwerpunkte zu nutzen, über die in den letzten Wahlkampfwochen landauf und landab diskutiert wurde, setzte eine Debatte über die Austauschbarkeit von Union und SPD ein. Schulz und Merkel entsprachen in ihrem Paarlauf dem AfD-Zerrbild der "Altparteien".

Nun sieht sich die SPD mit einem Ergebnis hart an der 20-Prozent-Marke konfrontiert. Die Sozialdemokratie droht von der Volkspartei, die in alle Gesellschaftsschichten wirkt, abzurutschen auf eine Mittelpartei. Sogar unter den Arbeitern schnitt die Union besser als die SPD ab. Schulz sprach am Montag dennoch von einem "tollen Wahlkampf" der Partei. Er schlug Arbeitsministerin Andrea Nahles als neue Fraktionsvorsitzende vor; dann in der neuen Rolle als Oppositionspartei. Das wirkt wie ein unausgesprochener Rückzug auf Raten, schließlich nimmt Schulz die zentrale Funktion nicht an. Der 61-Jährige will aber Parteivorsitzender bleiben.

Der Anspruch der Partei sei nun, "eine starke Opposition zu sein und aus der Rolle heraus die Zukunft dieses Landes zu gestalten", sagt Schulz. Das ist genauso wenig griffig wie die schon im Wahlkampf propagierte "soziale Gerechtigkeit". Politiker und Ökonomen links der Mitte kritisieren seit Jahren mangelnde staatliche Investitionen in Schulen wie Straßen oder den riesigen Niedriglohnsektor. Die Prioritäten der Bürger liegen dennoch anderswo: Im Jahr 1998, als Gerhard Schröder am Zaun des Bundeskanzleramts dröhnte, er wolle hier rein, war für 88 Prozent der Wähler der Arbeitsmarkt ein entscheidendes Thema. Am Sonntag waren es lediglich acht Prozent - auch dank Beschäftigungsrekord und einer von fünf auf rund 2,5 Millionen Personen gesunkenen Arbeitslosenzahl. Der Erfolg wettbewerbsfähiger Preise auf den Weltmärkten wurde mit Lohnverzicht unter der "Agenda 2010" Schröders erkauft. Seitdem, der Bundestagswahl 2005, stellt die SPD nicht mehr den Kanzler, ist die Linkspartei wieder im Parlament vertreten. Die SPD in Opposition wird versuchen, mit kantiger Politik wieder frühere Anhänger von links zurückzugewinnen.

Das alleine greift aber zu kurz: Schließlich pendelte die Linke von 2005 bis 2017 zwischen 8,6 und 11,9 Prozent. In den Jahren vor der Agenda 2010 kämpfte sie stets mit der Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Bundestag. Auch wenn die Linke dank einer SPD-Neuausrichtung wieder in alte Schwäche zurückfiele, wäre die SPD weit von Platz eins entfernt. Das gilt auch für rotes Schielen Richtung Grün. Erfolgsversprechender wäre es, die Millionen an Nichtwählern wieder zurück an die Urnen zu bringen. Die AfD mobilisierte am Sonntag knapp 1,5 Millionen Nichtwähler von 2013. Doch 10,2 Millionen, die vor vier Jahren abwesend waren, blieben auch diesmal fern.

Kein zündendes Thema

Selbst 60 Prozent der SPD-Wähler kritisieren, der Partei fehle ein zentrales Thema, mit dem sie die Menschen begeistern kann. Das ergab eine Umfrage für die ARD. Da ist die Union bereits weiter. Hier dreht sich alles um Zuwanderung und Integration angesichts des AfD-Erfolges mit Flüchtlingspolitik. Die Revierkämpfe beginnen bereits: Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sagt, man müsse über die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU reden. "Wir brauchen keinen Ruck nach rechts", entgegnet die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner.

Die Merkelianer in der Union wollen die Mitte nicht preisgeben. Dort hat sich die Partei in den vergangenen zehn Jahren breitgemacht. Dort verorten sich auch acht von zehn Bürgern - so viele wie in keinem anderen der sechs größten EU-Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Polen. Die CSU und die Merkel-Kritiker in der CDU sehen spätestens jetzt eine Abkehr von der Sozialdemokratisierung der Union gekommen. Rücken CDU/CSU tatsächlich nach rechts, verschiebt die SPD gleichzeitig ihr Programm nach links, wer kümmert sich dann um die verwaiste Mitte?