Tallinn. (ast/reu) Auch wenn der informelle EU-Gipfel in Tallinn von der Debatte überlagert war, wie sich die EU-27 nach dem britischen Austritt weiterentwickeln sollen, ging es doch eigentlich um die Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung in der Union. Und dem Gastgeberland Estland, das die derzeitige Ratspräsidentschaft innehat, mangelt es bei diesem Thema nicht an Selbstbewusstsein. Zusammen mit der estnischen Präsidentin Kersti Kaljuaid machte Ministerpräsident Jüri Ratas im Vorfeld klar, wie weit Estland den meisten anderen EU-Partnern auf diesem Gebiet voraus ist. "Wenn Sie ein Unternehmen in Estland gründen wollen, dauert das 20 Minuten - vielleicht weniger. Nicht 20 Tage", sagte der Ministerpräsident. Ratas hatte zu dem Treffen eingeladen, um eine fünfte grenzüberschreitende EU-Grundfreiheit einzuführen - neben den existierenden für Arbeitnehmer, Kapital, Waren und Dienstleistungen auch eine für Daten.

Während Estlands Priorität auf der schnellen Unternehmensgründung liegt, sorgen sich die großen Euro-Länder um ihre Steuerbasis. Die großen Euro-Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien fordern deshalb EU-einheitliche Regeln zur Besteuerung von IT-Firmen und legten dazu ein gemeinsames Papier vor. Das betrifft auch die Mehrwertsteuer, die einige Handelsfirmen und -plattformen im Internet umgehen. Bei den Beratungen zeichnete sich hierzu ein Streit zwischen dem Quartett und kleineren Partnern wie Irland ab. "Wenn wir mehr Innovation haben wollen, ist die Lösung nicht ‚mehr Steuer und mehr Regulierung‘", sagte etwa der irische Ministerpräsident Leo Varadkar.

Bundeskanzler Christian Kern will Österreich in der von Frankreich angeführten Vorreitergruppe für die Reform der EU sehen. Diese Gruppe könnte schon beim EU-Gipfel im Dezember ein gemeinsames Papier vorlegen, sagte Kern am Freitag in Tallinn. Er forderte eine "Klärung" der österreichischen Position und warf der ÖVP indirekt vor, weiter Steuer- und Sozialdumping in Kauf nehmen zu wollen.

Das baltische Land gilt in Berlin trotzdem längst als Vorbild. Denn während in Deutschland noch ideologische Grabenkämpfe mit Datenschützern über eine elektronische Gesundheitskarte geführt werden, existieren in Estland seit langem der E-Pass und sogar die E-Wahl. Bürger können nicht nur Bankgeschäfte, sondern den kompletten Behördenverkehr online abwickeln. "Bei uns gäbe es eine Revolte, wenn die Bürger in den Ämtern wieder Schlange stehen müssten", beschreibt Kaljuaid den Mentalitätswechsel, den die estnische Gesellschaft seither erlebt hat - und in Städten wie Berlin oder Wien undenkbar erscheint. Das Umdenken sei so radikal, dass mittlerweile darüber nachgedacht werde, Bürgern ohne jeglichen Antrag alle ihnen zustehenden staatlichen Leistungen zu gewähren, weil der Staat ohnehin die Daten abrufen könne, meint die estnische Präsidentin. Dies bedeutet eine komplette Umkehr des etwa in Österreich geltenden Verhältnisses zwischen einem Leistungen beantragenden Bürger und einem diese dann gnädig gewährenden Staat - und es hilft, die Bürokratie massiv einzudämmen.

"Bürger ist Herr seiner Daten"

Die üblichen Sicherheitsbedenken wischt Kaljuaid beiseite. Diese seien zwar ernst, hätten aber im Grunde nichts mit der Digitalisierung selbst zu tun. "Denn der Bürger ist weiter Herr seiner Daten", sagte Kaljuaid.

Missbrauchsmöglichkeiten seien im Gegenteil viel geringer als in nicht-digitalen Verwaltungen, weil jeder Bürger eine Nachricht bekomme, wenn seine Daten von einer staatlichen Behörde aufgerufen würden. Das sei etwa bei Krankenakten auf Papier nicht der Fall. Sie verstehe zudem nicht, wieso in anderen EU-Staaten etwa Internet-Identifizierungssysteme privaten Unternehmen wie Google überlassen werde. "Der Staat hat die Aufgabe, für die Sicherheit des Datenverkehrs seiner Bürger zu sorgen." Zudem sei die "Cyber-Hygiene" der Esten sehr hoch, weil Jung und Alt im Umgang mit dem Internet bereits jahrelang sehr geschult seien - und deshalb von Virenattacken viel weniger betroffen seien als andere Länder. IT-Kompetenz der Bürger und die größtmögliche Transparenz des Staates seien die Rezepte, mit denen in Estland funktioniere, was woanders noch misstrauisch gesehen werde.

Estland wirbt mit seiner Forderung nach der fünften EU-Freiheit dafür, dass andere EU-Staaten dem eigenen Vorbild folgen und die Tür für einen gemeinsamen grenzüberschreitenden Datenverbund öffnen, wie ihn das Land bilateral mit Finnland plant.

Das umstrittene Papier der vier großen EU-Länder macht aber auch in anderen Feldern Druck: Gefordert wird eine "Europäische Gigabit Gesellschaft", die durch stärkere Investitionen etwa in das 5G-Telefonnetz, Breitbandverbindungen sowie IT-Firmen erreicht werden soll.

Digitale EU-Sanktionskarte

Nach Angaben Estlands müssen Behörden der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten täglich "tausende Anfragen" zur geltenden Rechtslage beantworten. Wegen des hohen Aufwands würden Unternehmen häufig erst gar keine Aufträge annehmen, weil sie fürchten, in mit Sanktionen belegte Länder zu exportieren und sich selbst juristisch angreifbar zu machen.

Die EU hat deshalb im Auftrag Estlands die "EU Sanctions Map" erstellt. Mit ein paar Klicks sollen damit Firmen, die Güter exportieren wollen, erkennen, ob Handelspartner von Europa mit Strafmaßnahmen belegt sind. Die interaktive Karte mit den Sanktionen ist bereits online abrufbar.