Zum Hauptinhalt springen

"Es hätte nicht so weit kommen sollen"

Von Konstanze Walther

Politik

Historiker Carles Batlle i Enrich erklärt wieso die Situation zwischen Madrid und Barcelona derart eskaliert ist.


Barcelona/Wien. Obwohl oft die Franco-Zeit als Wurzel der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen wahrgenommen wird, ist der katalanische Wunsch nach Eigenständigkeit und Abgrenzung viel älter.

Um die katalanische Identität aus der Geschichte heraus zu verstehen, fängt man laut dem Universitätslektor Carles Batlle i Enrich von der Universität Wien am besten im 12. Jahrhundert an: Als sich das Gebiet Kataloniens mit Aragonien zur "Krone Aragoniens" vereinigte. In dem Begriff "Krone", statt "Königreich", schwingt für Batlle bereits die Betonung des föderalen Konstrukts mit - jeder Bereich behält seine eigenen Merkmale, seine eigenen Gesetze - anders als im damaligen Nachbarstaat, dem Königreich von Kastilien.

Als durch dynastische Verbindungen die beiden Reiche Aragonien und Kastilien unter eine Hand kommen, nämlich jene der Habsburger, hatte das zunächst keine Folgen. "Die Habsburger waren es dank ihrer Erfahrung aus dem mitteleuropäischen Raum gewohnt, mit verschiedenen Sprachen, Mentalitäten und Kulturen zusammenzuarbeiten", urteilt Batlle. Der erste wirklich schwierige Bruch folgt dann durch den Dynastiewechsel - ausgelöst durch den Tod des kinderlosen Karl II, dem in Folge letzten spanischen Habsburger. Die Katalanen, und mehrheitlich die Krone Aragoniens haben für die weiterführende Herrschaft der Habsburger gekämpft - die laut Batlle später eine gewisse Verklärung erfahren haben. Man hatte Angst vor den Bourbonen, denn man wusste, Frankreich war streng zentralistisch regiert.

"Im Großen und Ganzen lief es auf die Zuspitzung hinaus: Wie soll ein Staat aussehen?", bringt es Batlle auf den Punkt. Ein Satz, der noch heute die Problematik in Spanien erklärt. Damals war die Frage: "Soll man den Staat nach französischen Vorbild gestalten, so wie es die Bourbonen vorexerzieren, oder soll es dezentral passieren, so wie es die Habsburger gewöhnt waren, mit Böhmen und Ungarn? Diese Auffassungsunterschiede lösen sich damals nicht normal, sondern durch Kriege."

Im Zuge des Spanischen Erbfolgekriegs haben die Bourbonen am 11. September 1714 mit der Kapitulation Barcelonas den Sieg davon getragen. Der 11. September ist seit damals der katalanische Nationalfeiertag.

Dass die Krone Aragonien gegen die Bourbonen gekämpft hatten, wurde mit Sanktionen gegen die Verlierer quittiert. Philipp von Anjou, später Philipp V. Spanien, schuf sämtliche Gesetze und Sonderbehandlungen dieser Gebiete ab. Die katalanische Sprache wird zum ersten Mal als minderwertig angesehen, die bisherigen Universitäten wurden geschlossen, neue königstreue Institute wurden errichtet. In die Gebiete der Krone Aragoniens - also damals Aragonien, Katalonien, Valencia, die Balearen - und viele Gebiete außerhalb der iberischen Halbinsel - hält der Zentralstaat Einzug, "meine Erachtens die Wurzel des Übels", meint Batlle. Paris ist schließlich auf dem Gebiet Frankreichs nicht eben zimperlich mit Minderheiten umgegangen.

Geschichte und Mentalität

Wieso ist aber gerade Katalonien so von der Unabhängigkeit beseelt? Das Gebiet von Valencia beispielsweise hatte ein ähnliches Schicksal? Zum einen liegt es an der Sprache: "Das valencianische Gebiet war von Anfang zweisprachig - spanisch und katalanisch", erklärt Batlle. Dass sich der Unabhängigkeitsgedanke dort aber nicht so verfestigt hat, liegt auch an den verschiedenen Entwicklungen der Gebiete, "und vielleicht auch in der unterschiedlichen Mentalität.

Das zeichnet sich bereits im 19. Jahrhundert ab: Überall in Europa kommt es im Zuge der Romantik zu einer Rückbesinnung auf ursprüngliche Werte. Im ehemaligen Gebiet der Krone Aragoniens wurde unter dem Stichwort der "Renaixença" die Wiedergeburt der katalanischen Kultur und Sprache gefeiert. Diese Bewegung ist besonders in Katalonien sehr stark, auch wenn es sie auch auf den Balearen und in Valencia gegeben hatte. "Ohne der starken Renaixença wäre die Geschichte bis heute vielleicht ganz anders verlaufen", glaubt Batlle. So hat es sich der Gedanke der eigenen Sprache, der eigenen Kultur, wieder als identitätsstiftendes Merkmal verfestigt.

Dennoch hat man sich mit der Situation arrangiert. Dass es heute zu diesem nicht ignorierbaren Ruf nach Unabhängigkeit gekommen ist, hätte sich vor ein paar Jahren niemand zu träumen gewagt. "Bis zum Jahr 2007, 2008 waren die Befürworter der Unabhängigkeit relativ marginal. Wenn es hochkommt, waren es 10 Prozent der Bevölkerung. Entscheidend war die Bildung der Europäischen Gemeinschaft: Das Versprechen war, dass sich die verschiedenen Völker Europas neu ordnen können, und über allem steht die europäische Idee - zu Lasten der Nationalstaaten."

Unter dem Eindruck dieses Versprechens versuchten die Katalanen ab 2007, ihr Autonomiestatut zu reformieren, die Zentralregierung weigert sich, Zugeständnisse zu machen. Dann entstehen die Konflikte. Ab 2012 lässt sich die Eigendynamik kaum aufhalten, nach dem Motto: "Jetzt erst recht". Auf einmal wird laut Batlle die Idee nach Unabhängigkeit extrem populär. "Da sieht man, dass die Zentralregierung wohl etwas falsch gemacht hat. Denn es wäre relativ einfach gewesen, die Unabhängigkeitsgedanken schnell wieder vom Tisch zu bekommen. Es ist mir unverständlich, warum man es soweit hat kommen lassen. Das war gar nicht notwendig." Laut Batlle gibt es viele Menschen, die sich früher nie für die Unabhängigkeit begeistern konnten. Aber inzwischen wurde seitens Madrid viel Porzellan zerschlagen, es setzte Provokationen und Beleidigungen.

Wirtschaftlich habe Madrid schon lange Katalonien ausbluten lassen: Förderungen wurden massiv gekürzt. "Das wäre so, als ob in Österreich das Finanzministerium in Wien die Gelder für die Bundesländer kappt. Dann können Sie keinen Föderalismus leben. In Katalonien sieht man, wie die Infrastruktur, die vom Staat aufrechtzuerhalten wäre, immer weiter verkommt. Es wird nichts investiert. Das prägt in Katalonien den Alltag. Die Leute sehen die schäbigsten Züge, die nach Katalonien geschickt werden, die im krassen Gegensatz zu jenen sind, die im Rest von Spanien fahren. Das sind so die Mosaikteile", erzählt Batlle. Und nun kommen viele Menschen in Katalonien zu dem Schluss: "Offenbar ist es die einzige Option, einen eigenen Staat zu gründen", so Batlle. "Diese Idee ist auf einmal salonfähig. Ob sie mehrheitsfähig ist, wissen wir nicht - das wäre eben das Interessante an dem Referendum." Batlle spricht sich damit für die Abhaltung einer Volksbefragung aus: "Ich bin der Meinung, dass ein Referendum möglich sein sollte. In Schottland ist es ermöglicht worden und zivilisiert abgelaufen. Und nicht nur dort, man hat es in Kanada mit Quebec gemacht. Da gibt es einige Beispiele. Also muss man sagen: Wo liegt das Problem?" Auch wenn Emotionen immer dabei sein werden, sollte man doch versuchen, vernünftig argumentieren zu können. "Die jetzige Situation finde ich sehr schade." In der Zentralregierung setzten sich dagegen in ihrer abwehrenden Haltung Ideen durch, "bei denen man sagen muss: Das ist wirklich mehr als vorgestrig." Batlle vergleicht den konservativen Partido Popular, der mit Premierminister Mariano Rajoy die Regierung in Spanien stellt, mit der bayerischen CSU: "Beide agieren nach dem Motto: Rechts von ihnen sollte niemand mehr Platz haben." Dazu kommt, dass der PP mit antikatalanischen Reflexen sehr gut seine Klientel bedienen könne, urteilt Batlle.

Warten auf Eskalation

Nun ist die Situation also mehr als verfahren. Katalanische Politiker werden verhaftet. Wahlzettel beschlagnahmt - und dann schickt Madrid noch ausgerechnet die Guardia Civil nach Katalonien: "Das ist wirklich ein rotes Tuch. Ausgerechnet die. Das ist jene Einheit, die 1981 versucht hat, im spanischen Parlament zu putschen und eine neuerliche Diktatur zu errichten. Die Guardia Civil ist in Katalonien wirklich verhasst. Das war das Schlimmste, was Madrid machen konnte. Das war eine absichtliche Provokation." Batlle macht auch auf die begleitende Sprache aufmerksam: Madrid, so heißt es von dort, müsse ja die Guardia Civil schicken, um die Sicherheit zu gewährleisten. Die Stimmung in Katalonien sei doch "aufgeheizt". Dabei habe es selbst an den Nationalfeiertagen, bei denen Millionen durch die Straßen marschieren, keine Zwischenfälle gegeben. "Ganz im Gegenteil: Weil Madrid nur darauf wartet, dass irgendwo die Leute ein bisschen ausrasten, ist die Parole: Bleiben wir friedlich. Denn sie warten ja auch nur darauf."