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Fluchtpunkt ohne Wiederkehr

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Das Baltikum gilt als beliebtes Ziel russischer Emigranten. Viele versuchen von dort aus, auf ihr Heimatland positiv einzuwirken.


Riga/Tallinn. Manchmal sind es lange Prozesse, die sich in einem einzigen Ereignis verdichten. Der Abschuss der Passagiermaschine MH17 in der Ostukraine war für Jewgenija Tschirikowa so ein Moment. Oder die Schlacht um den Flughafen von Donezk, zumindest für Andrej Rodionow. Damit seien für ihn "alle Dämme gebrochen", sagt er heute. Auf den ersten Blick gibt es nicht viel, was Rodionow und Tschirikowa gemeinsam haben. Hier eine Familienmutter, 40, kurze Haare, aufgewecktes Lachen. Dort ein Student, 25, Bürstenhaarschnitt, verschlossen und schüchtern. Doch als der Krieg in der Ostukraine im Sommer 2014 eskalierte, packten beide ihre Koffer. Tschirikowa in der russischen Hauptstadt, und Rodionow in der 500.000-Einwohner-Stadt Rjasan, drei Autostunden von Moskau entfernt. Beide zogen nordwestwärts, in das Baltikum.

Genaue Zahlen, wie viele russische Bürger in den vergangenen Jahren in die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen emigriert sind, gibt es nicht. Die oppositionelle Zeitung "Nowaja Gaseta" spricht in einem Dossier zumindest von "tausenden". "Die meisten dieser Menschen folgen ihren liberalen politischen Ansichten", sagt der litauische Politologe Viktor Denisenko - wenngleich viele von ihnen auch vor der russischen Konjunkturflaute fliehen würden: "Junge und gut ausgebildete Menschen, die auch im Ausland Arbeit finden."

Oppositionsarbeit geht weiter

Tschirikowa ist eine von ihnen. Die Moskauerin, eine glühende Umweltaktivistin, befand sich schon seit Jahren im Clinch mit den russischen Behörden. Das ging sogar so weit, dass ihr das Sorgerecht entzogen werden sollte. Aber erst der Krieg im Donbass und der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 hätte ihr den letzten Ruck gegeben, ihr Land zu verlassen. "Ich möchte nicht einem Staat Steuern zahlen, der diese Verbrechen unterstützt", sagt sie heute.

Vor sieben Jahren hatte sich Tschirikowa für den Erhalt eines Waldstückes bei Chimki, nahe Moskau, eingesetzt. Der Protest scheiterte, die Autobahn wurde gebaut. Unter dem Druck der Behörden wurde Tschirikowa von einer Apolitischen zur Oppositionellen. Ein Modell, das Schule machen soll, wenn es nach ihr geht: Inzwischen hat sie in Estland die die Online-Plattform "Activatica" gegründet, um Graswurzelbewegungen in ganz Russland zu unterstützen. "Ich möchte die russische Zivilgesellschaft aufbauen - von Tallinn aus", sagt sie. Hier hat sie sich in das Gemeinschaftsbüro der Stiftung "Offenes Estland" eingemietet.

Das Baltikum steht in der Wunschliste vieler russischer Emigranten ganz oben. Grund sind die hohen Standards punkto Menschenrechte und Lebensqualität sowie die kulturelle Nähe zu Russland durch die großen russischen Minderheiten, die es im Baltikum bis heute noch gibt. In Estland sind 25,1 Prozent der Staatsbürger Russen, in Lettland sogar 25,6 Prozent, in Litauen hingegen nur fünf Prozent. Das geht auf die sowjetische Bevölkerungspolitik zurück, als nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst Russen im annektierten Baltikum angesiedelt wurden. Nicht zuletzt ist es aber auch die geografische Nähe - von Tallinn ist man in knapp vier Stunden in Sankt Petersburg.

Die drei baltischen Staaten sind heute Mitglied der EU, der Eurozone und der Nato. Rodionow sieht darin einen "Beweis dafür, dass sich auch Russland so entwickeln hätte können". Der Student, der sich selbst als "Anarcho-Kapitalisten" bezeichnet, ist schon seit seiner frühen Jugend oppositionell eingestellt. In seiner Heimatstadt organisierte er Proteste - sehr zum Unmut der Behörden. Schließlich flog er von der Uni. Nach der Annexion der Krim und dem Kriegsausbruch im Donbass ging er ins Exil. Rodionow entschied sich für Riga. Inzwischen studiert er hier Wirtschaft, hat sich einer liberalen Partei angeschlossen und Lettisch gelernt.

60 Prozent Russen

Die größte Stadt des Baltikums war schon immer ein Sehnsuchtsort der westlich orientierten Russen. "Riga war immer ein Tor nach Europa und ein westlicher Posten der Sowjetunion," schreibt der Schriftsteller Alexej Jewdokimow. "Jetzt ist es ein Spiegel, durch den die Russen ihre Träume und ihre Ängste sehen." Inoffiziellen Schätzungen zufolge sind 60 Prozent der Bevölkerung in Riga Russen. Kein Wunder, dass sich 2015 ausgerechnet hier die große russische Exil-Zeitung "Meduza" gründete, nachdem die Medienpolitik in Russland immer repressiver geworden war.

Dass in Estland und Lettland jeder vierte Bürger russische Wurzeln hat, hat das Verhältnis aber auch belastet. Eine rigorose Sprachenpolitik macht die Integration für viele Russen vor allem in Estland und Lettland schwer. Die Esten werfen Moskau immer wieder Interventionen vor, wie etwa 2007, als es bei einer Verlegung eines sowjetischen Kriegerdenkmals zu Protesten und Cyber-Attacken kam. Oder erst unlängst, als die estnische Polizei einen Ring aus Militärspionen des russischen Geheimdienstes FSB aufgedeckt haben soll.

Auf dem Höhepunkt der Ukraine-Hysterie ist auch Artjom Troizkij, ein berühmter russischer Musikjournalist, emigriert. In einem Klima, als Fotos von "Volksverrätern" wie dem später ermordeten Boris Nemzow auf Hauswände plakatiert wurden. "Die Rhetorik ist nicht mehr so aggressiv, wie damals", räumt Troizij ein, der heute in Tallinn lebt. "Aber reale Verbesserungen hat es dennoch nicht gegeben." So ist das Baltikum für viele Russen ein Fluchtpunkt ohne Wiederkehr. Wie Troizkij wollen auch Tschirikowa und Rodionow nicht zurück.