Zum Hauptinhalt springen

"Ich möchte nicht in seiner Haut stecken"

Von Konstanze Walther

Politik

Kataloniens Regierungschef Puigdemont ist in der schwierigsten Phase seiner politischen Laufbahn.


Barcelona/Wien. Bis Montag, 10 Uhr, soll sich Kataloniens Regierungschef Carles Puigdemont entscheiden. War das, was er am Dienstag verkündet hat, eine Unabhängigkeitserklärung oder nicht? Falls es eine Unabhängigkeitserklärung war, gibt ihm Madrid schon jetzt eine Nachfrist: Diesfalls bekommt er noch einmal fünf Tage Zeit bis Donnerstag, um noch einmal darüber nachzudenken und diesen Schritt rückgängig zu machen. Tut er das nicht, kann die katalanische Autonomie ausgesetzt werden. Der berüchtigte Artikel 155 der spanischen Verfassung würde in Gang gesetzt werden, der es der Zentralregierung ermöglicht, in den autonomen Gebieten einzugreifen und deren Rechte zu beschneiden, sollten sie sich nicht pflicht- und verfassungsgemäß verhalten.

Die spanische Verfassung wird dank der Katalonien-Frage derzeit so oft herbeizitiert wie schon lange nicht mehr. Um die Positionen besser zu verstehen, hilft ein Blick zurück.

Der berüchtigte spanische Diktator Francisco Franco starb 1975. Die darauffolgende Übergangsphase mündete 1978 in einer Verfassung, in der das Land versuchte, seine fast 40 Jahre währende Diktatur offiziell zu beenden. Mittels Minimalkonsens wurde versucht, möglichst rasch ein konstitutionelles Gerüst für das weitere Zusammenleben zu basteln. Das diese Übergangsperiode nicht zu neuerlichen Gewalt geführt hat, wird von vielen Spaniern heute noch als Meisterwerk bezeichnet. Doch für den Minimalkonsens war wichtig, dass viele Regionen auf ihre Forderungen verzichteten. Katalonien, dem Baskenland und Galicien wurde zwar eingeräumt, dass sie Autonomiestatus bekommen. Aber um niemandem eine Extra-Behandlung angedeihen zu lassen, wurde der Rest von Spanien ebenfalls in Autonomieregionen eingeteilt - insgesamt 17 an der Zahl. Ein Kunstgriff, der für Kopfschütteln gesorgt hat, aber der Friede war vorerst wichtiger. Der Glauben war: Es wird schon nachverhandelt werden. Territorien mit besonderer Geschichte, mit einem besonderen Erbe, wie Katalonien, würden nach 1978 schon ein Mehr an Autonomie eingeräumt bekommen. Das war nun aber nicht der Fall.

"Jetzt verhält man sich in Madrid so, als wäre diese Verfassung in Stein gemeißelt, und vom Sinai heruntergefallen - und das entspricht nun wirklich nicht der Wahrheit", ärgert sich Carles Batlle i Enrich, Universitätslektor für katalanische Sprache und Geschichte von der Universität Wien.

Der Selbstzweck Verfassung

Batlle hat, wie viele Katalanen, es satt, ständig zu hören, dass man in Sachen Kataloniens leider nichts machen kann: kein Referendum, keine Finanzautonomie, keine Unabhängigkeit. Ist leider alles nicht Teil der Verfassung, heißt es aus Madrid.

In dieser Woche wurden etwa die katalanische Frage und der Wunsch des katalanischen Regierungschefs Puigdemont lange im Madrider Plenum diskutiert. Der Haupttenor war: Was soll man denn mit jenen diskutieren, die sich außerhalb des legalen Rahmens bewegen? Die Ausrufung des Referendums über die etwaige Unabhängigkeit am 1. Oktober war illegal. Die Abhaltung desselben war illegal. Und der Wege einer transparenten Abstimmung wurde außerdem auch nicht eingehalten. Demokratie, so tönt es mehrheitlich aus Madrid, kann sich nur in den Bahnen der Gesetze abspielen. Die Abgeordneten von Podemos, der Linkspartei, die sich als einzige der größeren Parteien für die Ermöglichung eines Referendums ausgesprochen hatte, wurden von Maria Sáenz de Santamaría, Stellvertreterin des konservativen spanischen Premierminister Mariano Rajoy, als Steigbügelhalter von Verfassungsbrechern tituliert.

Dabei gibt Batlle zu bedenken: "Die Verfassung, die unter Franco in Kraft war, hätte auch nicht das erlaubt, was danach kam. Auch die Russische Revolution war illegal. So wie alle diese großen Veränderungen." Die Selbstbestimmung Kataloniens ist jedenfalls in den vergangenen zehn Jahren zu einem immer größer werdenden Thema geworden.

Denn eine Zeit lang sah es so aus, als würde Katalonien endlich eine Reform seiner Autonomie bekommen. Inklusive der Möglichkeit, sich Nation zu nennen, seine Sprache als die Bevorzugte bei Behördengängen anzugeben und eine Finanzautonomie zu bekommen - denn "was nutzt all die Autonomie, wenn man sie nicht finanzieren kann? Noch dazu, wo die Basken schon längst eine Finanzautonomie bekommen haben", erklärt Batlle.

Mit Madrid wurde man sich irgendwann handelseins. Alles schien sich in Wohlgefallen aufzulösen. Bis die Zentralregierung die Reform 2010 plötzlich zum Verfassungsgerichtshof schickt, der das neue Statut prompt kippt. Und das bedeutete für viele Katalanen: wieder zurück an den Anfang. Wieder zurück nach 1978. Und dort ist man bis heute.

Der Wunsch nach Selbstbestimmung wurde größer - zumindest wuchs die Zahl jener, die über eine Selbstbestimmung abstimmen wollten. Mit dem ersten Oktober kam schließlich die nächste, tiefe Zäsur im Verhältnis Kataloniens zur Zentralregierung. Was eine Abstimmung von mehr oder weniger legalem Gewicht hätte werden sollen, geriet aufgrund des Einsatzes überzogener Polizeigewalt zu einem Schaustück von allem, was schlecht an der Zentralregierung in Madrid ist.

"Die Bilder vom ersten Oktober haben wirklich wehgetan", erzählt Batlle sichtlich bewegt, erschüttert, das so etwas überhaupt möglich war. Und das es offenbar auch diese Eskalation sehenden Auges mindestens in Kauf genommen wurde: Madrid hatte schon Wochen vor der Abstimmung zwei große Schiffe mit tausenden Polizisten nach Katalonien geschickt, die im Hafen von Barcelona vor Anker lagen, um der Dinge zu harren, die da kommen würden. Eingepfercht auf engstem Raum, schaukelten sich auch hier die Aggressionen hoch, "eine Strategie, die man aus Kriegen kennt", kommentiert Batlle. Einer der Uniformierten wurde sogar nach Hause geschickt, nachdem er ein Video für seine Freunde gemacht hat, in dem er sich schlecht gelaunt über das eingepferchte Zusammenleben beschwerte.

Am ersten Oktober sind die nationalen Polizisten sowie die Guardia Civil äußerst aggressiv und schließlich sogar mit Gummigeschossen gegen die Zivilbevölkerung losgegangen. Alles, um sie vom Wählen abzuhalten.

Widerstreitende Positionen

"Katalonien hat sich das Recht verdient, ein eigener Staat zu sein", hatte Carles Puigdemont am Dienstag erklärt. Und hat nach einer langen Rede über die Geschichte des katalanischen Volkes nicht nur zum Dialog und zur Mediation aufgerufen, sondern auch eine symbolische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet. Ein Spagat, der fürs Erste kalmieren sollte. Die separatistische CUP hatte von Puigdemont die Ausrufung der Unabhängigkeit verlangt. Sein Bündnis, die Junts pel Si war eher auf Verhandlungen aus. Die Rede, die schließlich von Puigdemont gehalten wurde, befriedete vorerst beiden Seiten. Im Korpus dieser Rede wurden noch einmal alle Stationen der Beweggründe der Katalanen bis hin zu dem verbotenen Referendum nachgezeichnet. Und er bat um Verhandlungen und rief die EU an, vermittelnd einzugreifen.

Diese Position Puigdemonts, sich nicht festzulegen, wird angesichts der von Madrid gesetzten Fristen immer schwieriger.

"Ich möchte nicht in seiner Haut stecken", sagt Batlle. Der katalanische Regierungschef weiß schließlich genau, dass die Menschen von ihm diametral unterschiedliche Sachen wollen. "Hier eine Balance zu finden , ist wirklich schwierig." Am Dienstag war noch ein erleichtertes Aufatmen durch die Reihen vieler Katalanen gegangen, die Angst vor den Folgen einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung haben. Und inzwischen wächst der Druck, auch seitens der katalanischen Nationalversammlung (ANC), der Dachverband mehrerer hundert separatistischer Bürgerinitiativen, die Unabhängigkeit lieber heute als morgen in Kraft zu setzen. "Da der spanische Staat jeden Vorschlag für einen Dialog ablehnt, macht das Zuwarten überhaupt keinen Sinn mehr."

Denn Madrid hat klar gesagt: Sie lassen nicht mit sich in Sachen Unabhängigkeit reden. Aber man streckte dennoch ein Stück die Hand aus: Man könne ja die Verfassung reformieren.

Doch in Katalonien ist man misstrauisch geworden. Zu oft hieß es in der Vergangenheit: "Wir werden es schon machen, und dann geschieht nichts", erzählt Batlle. Deswegen wirke das so unglaubwürdig, wenn Madrid nun von Reformen spricht.

Um Vertrauen aufzubauen, braucht es auch nach Meinung Batlles einen Vermittler: etwa von der EU. Die Europäische Union verweilt unterdessen auf ihrer Position, nicht zuständig zu sein. "Ich finde es schade, dass, wenn jemand so oft nach einer Vermittlung schreit, das alles abgeblockt wird", so Batlle.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sich am Freitag vor Studenten in Luxemburg gegen eine Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien ausgesprochen. Es handle sich um eine innerspanische Angelegenheit, betont Juncker. "Wenn wir erlauben, dass Katalonien unabhängig wird, dann werden das auch andere (Regionen) wollen und das gefällt mir nicht", sagt Juncker. "Ich will keine Europäische Union, die in 15 Jahren aus 90 Ländern besteht", fügt er hinzu. Zugleich ruft er Barcelona und Madrid zu Gesprächen zur Beilegung der Krise auf. Juncker scherzt zudem, dass er diese Sätze auf Deutsch sage, "damit sie in Katalonien niemand versteht."

Natürlich wurde dieses Zitat von katalanischen Medien aufgegriffen.