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"Die Kämpfe werden wieder aufflammen"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Alexander Hug, Vize-Chef der OSZE-Sondermission in der Ostukraine, warnt vor einer Eskalation der Kämpfe in den Wintermonaten.


"Wiener Zeitung": Nach einem recht ruhigen Sommer haben sich dieser Tage die Kämpfe in der Ostukraine wieder ausgeweitet. Wie ist die Lage vor Ort?

Alexander Hug: Die Waffenstillstandsverletzungen sind zuletzt wieder um 45 Prozent angestiegen. Es werden wieder schwere Waffen eingesetzt, wie Mörser, Artilleriegeschütze, Raketenwerfer und Panzer. Darunter leidet vor allem die Zivilbevölkerung, die großen Ballungsgebiete liegen auf der Seite des nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiets. Aber die Seiten tragen daran gleichermaßen Schuld, weil sie ihre schweren Waffen in Richtung Kontaktlinie bewegen und diese in bewohnten Gebiete stationieren. So wird zum Beispiel die gesamte Nordwestseite von Donezk oder das südliche Ende von Awdijiwka zum Brennpunkt.

Rechnen Sie demnächst mit einer weiteren Eskalation?

Vor einem Jahr hatten wir eine ähnliche Dynamik: Da hat sich die Lage im September (rund um eine Waffenruhe zum Schulbeginn am 1. September, Anm.) beruhigt, im November wieder verschärft, um dann im Januar und Februar völlig zu eskalieren. Da war dann die Hemmschwelle gebrochen. Niemand hat sich mehr die Mühe gemacht, die schweren Waffen vor uns zu verstecken. In solchen Situationen ist es sehr schwierig, die Kämpfe wieder einzudämmen. Ob es wieder so weit kommen wird, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Aber wir sehen zumindest die ersten Anzeichen dafür.

Welche Anzeichen sind das?

Ich sehe vor allem zwei Probleme: Das ist erstens die Präsenz von schweren Waffen und zweitens die große Nähe der feindlichen Stellungen. Obwohl der Sommer recht ruhig war, hat keine der Seiten die schweren Waffen abgezogen. In vielen Gebieten stehen sich die Seiten so nahe, dass es nur einer kleinen Provokation bedarf, dass die Kämpfe wieder eskalieren. Wenn die feindlichen Stellungen weiter voneinander entfernt sind und die schweren Waffen zurückgezogen werden, ist es allein physisch nicht mehr so leicht möglich, schwere Kämpfe zu beginnen. Das ist der Kreis, der durchbrochen werden muss. Die Seiten haben das ebenso als Problem anerkannt, sonst hätten sie die Abmachung (zur Entflechtung der Kontaktlinie, Anm.) ja nicht unterschrieben.

Aber trotzdem bewegt sich nichts.

Was fehlt, ist der Wille, diese Waffen abzuziehen. Das kann aber nicht einseitig passieren, weil das zugleich einem militärischen Nachteil entspricht. Und jetzt kommen die Wintermonate, in denen es noch einfacher wird, die schweren Waffen auf gefrorenem Grund in Richtung Front zu bewegen, weil sie nicht im Grund versinken. Bevor es die ersten Minusgrade gibt, besteht die Möglichkeit, die Waffen in die vereinbarten Abzugsgebiete zu bringen, wo sie nicht mehr so schnell eingesetzt werden können. Die Seiten müssen zusätzlich die OSZE-Mission über die Standorte und die Seriennummern dieser Waffen informieren, damit unsere Beobachter diese Waffen auch als abgezogen verifizieren können.

Sie sehen also gerade jetzt ein Zeitfenster, um die Eskalation der Kämpfe in den Wintermonaten zu verhindern?

Beide Seiten müssen vor dem Wintereinbruch sicherstellen, dass so viele Waffen wie möglich verifizierbar abgezogen werden, um die Waffenruhe vorerst irreversibel zu machen. Das Minsker Abkommen sieht eigentlich eine Pufferzone entlang der Kontaktlinie vor, die entmilitarisiert sein sollte. Wie Sie ja schon angesprochen haben, sind die Soldaten an manchen Stellen aber nur noch wenige Meter voneinander entfernt. Die Seiten standen sich nicht immer so nahe gegenüber. 2014 und 2015 waren sie etwa noch weit voneinander entfernt. Erst Mitte 2016 hat dann dieses Vorrücken begonnen. Die Kontaktlinie muss koordiniert entflochten werden, sonst werden die Kämpfe unweigerlich wieder aufflammen. In diesem Jahr haben wir keinen einzigen Tag entlang der fast 500 Kilometer langen Kontaktlinie gesehen, an dem die Waffen geschwiegen haben.

Was können Sie über die Nachschubrouten aus Russland sagen?

Wir patrouillieren das ukrainisch-russische Grenzgebiet, aber stark eingeschränkt. Diejenigen, die zurzeit die Kontrolle in Teilen der Regionen Donezk und Luhansk ausüben, erlauben uns nicht, Stützpunkte im grenznahen Gebiet aufzubauen. Zurzeit müssen wir viele Checkpoints auf unseren Patrouillen an der ungesicherten Grenze mit Russland passieren. Das heißt: Wir kommen an die Grenze, aber alles, was wir dort sehen, ist stark kontrolliert. Aber wir wissen, wie viel geschossen wird. Zusammengezählt haben beide Seiten in diesem Jahr 320.000 Mal die Waffenruhe gebrochen, mehr als 25.000 Mal davon mit schweren Waffen. Es ist also klar, dass die Seiten gut ausgebaute Versorgungsstrukturen haben.

Bei der UN-Generalversammlung hat Moskau zuletzt eine UNO-Friedensmission für die Ostukraine vorgeschlagen. Konkret ging es um eine Art Personenschutz für OSZE-Beobachter im Frontgebiet. Wie kommentieren Sie das?

Es gibt für uns OSZE-Beobachter zwei große Gefahren in der Ostukraine: Minen und indirektes Feuer, wenn wir zwischen die Fronten geraten. Das macht 95 Prozent der Risiken aus, denen wir ausgesetzt sind. Direkte Bedrohungen unserer Beobachter sind eher seltener. Um unsere Sicherheit zu garantieren, müssen Minen geräumt und schwere Waffen abgezogen werden. Es liegt an den Seiten selbst, das zu gewährleisten.

Wie schätzen Sie die Versorgungslage für den Winter ein?

Sehr schlecht ist die Lage nahe der Kontaktlinie, wie im Westen von Donezk-Stadt. Aber vor allem die Lage in den Dörfern ist dramatisch. Das Dorf Nowoolexandriwka im Luhansker Gebiet wird von keiner Seite wirklich kontrolliert. Dort werden Hilfslieferungen nicht durchgelassen, es gibt keine offiziellen Übergangspunkte. Das führt dazu, dass Menschen, die dort leben, versuchen, sich durch ein Waldstück durchzuschlagen, um sich selbst zu versorgen. Dort treten sie immer wieder auf Sprengfallen und Minen. Oder die Menschen im rund 15 Kilometer nördlich der Stadt Donezk gelegenen Dorf Kruta Balka, die seit einem Jahr ohne Strom leben. Sie können nicht einmal mehr ihre Mobiltelefone laden, um Hilfe zu rufen, oder ihre Lebensmittel in Kühlschränken lagern.

Zur Person

Alexander Hug ist der stellvertretende Leiter der OSZE-Sondermission in der Ostukraine. Zuvor war der Schweizer Jurist und Offizier für die OSZE unter anderem in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo im Einsatz.