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Es gibt noch Hoffnung

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik
Mladic erwartet in Den Haag sein Urteil. Die Anklage fordert lebenslänglich.
© reu/Meissner

Nach dem Urteil gegen Ratko Mladic schließt der UN-Gerichtshof in Den Haag seine Pforten.


Den Haag. Der Chefankläger hat gute Laune mitgebracht. Während ein Herbststurm über die niederländische Küste hinwegfegt, blickt Serge Brammertz, 55, im Versammlungssaal einer Brasserie in Den Haag zufrieden in die Runde. Verständlich, denn vor ihm liegt so etwas wie die Krönung seiner Tätigkeit. Demnächst wird in Gerichtssaal 1 des UN-Sondergerichtshofs für Ex-Jugoslawien (ICTY) das Urteil gegen Ratko Mladic verkündet, den früheren General der bosnisch-serbischen Armee.

"Ein Meilenstein", sagt der belgische Jurist. "Einer der wichtigsten Fälle in der Geschichte des Tribunals." An diesem Mittag im Oktober trifft Brammertz in Den Haag auf internationale Journalisten. Eine jährliche Gewohnheit ist das, er berichtet dann über den Stand der Dinge im ICTY und den Verlauf der wichtigen Verfahren. Früher ging es auch noch über die ärgerlich lange Suche nach den letzten Flüchtigen. "Lange glaubte niemand, dass sie je verhaftet würden."

Heute dagegen wirkt alles rund, Brammertz im Reinen mit der Arbeit des Tribunals, dessen Mandat am 30. November ausläuft. Alle 161 Angeklagten wurden vor Gericht gebracht, und anderthalb Jahre nach der Verurteilung Radovan Karadzic’ folgt nun mit aller Wahrscheinlichkeit die von Ratko Mladic. "Sie waren die Architekten der ethnischen Säuberung und des schwersten Kriegsverbrechens auf europäischem Boden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs."

Chefankläger hofft auf Lebenslänglich

Lebenslänglich - auf dieses Urteil hofft der Chefankläger nun für Mladic, der wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt ist. Karadzic, der politische Chef der "Republika Srpska", wurde Anfang 2016 zu 40 Jahren Haft verurteilt - unter anderem, weil er einer der beiden Anklagepunkte wegen Genozids nicht schuldig befunden wurde. Viele Hinterbliebene in Bosnien waren fassungslos.

Serge Brammertz ist Kritik am Jugoslawien-Tribunal nach zehn Jahren gewohnt. "Mit jedem Urteil in Den Haag, das von einer Seite begrüßt wird, ist eine andere sehr unzufrieden", bilanziert er. Etwas Dunkles legt sich in seine Miene. In den letzten Jahren ist Brammertz zunehmend deutlich geworden, was seine Einschätzung der Lage in den Nachfolgestaaten angeht. Das "politische Klima" sei keine Unterstützung für die nötige Versöhnung. "Und zudem werden noch immer Kriegsverbrecher verherrlicht."

Womit der Chefankläger ein zentrales Problem des ICTY angesprochen hat. Denn während der Gerichtshof im Westen vornehmlich als wegweisendes Modell internationaler Rechtsprechung und der Verfolgung von Kriegsverbrechen gilt, hat er im früheren Jugoslawien mehr als nur ein Imageproblem. "Das Tribunal ist dort grundsätzlich nie akzeptiert worden - bis heute nicht." Für ein Gericht, das ausdrücklich zur Versöhnung beitragen will, muss ein solches Fazit nach zweieinhalb Jahrzehnten ziemlich niederschmetternd sein. Umso mehr, da es aus dem Mund von Rada Pejic-Sremac kommt, die wiederum niemand Geringere ist als die Leiterin der Abteilung "Outreach" innerhalb des ICTY.

Das kleine Outreach-Büro liegt hinter der Glastür im Erdgeschoß des Tribunals, im Teil, der für Publikum unzugänglich ist. Wie die anderen Abteilungen wurde auch hier das Personal bereits zurückgefahren. Wobei Outreach, erst 1999 und damit sechs Jahre nach dem ICTY ins Leben gerufen, nie mehr als zehn Mitarbeiter hatte - in Den Haag und Sarajevo, Belgrad, Zagreb und Pristina. Heute sind es noch sechs.

Rada Pejic-Srmac ist eine ruhige, freundliche Frau Mitte 30. Sie stammt aus Serbien und war kaum ein Teenager, als der Krieg ausbrach. Seither, sagt sie, versuche sie zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. 2007 trat sie der Outreach-Abteilung bei, die gegründet wurde, um den Menschen in Ex-Jugoslawien die Arbeit des Tribunals näherzubringen. Zuvor waren nicht einmal die Urteile aus dem Englischen übersetzt. "Es gab keine Kommunikation", sagt die frühere Journalistin. Sie spricht von einer "verlorenen Periode".

Serben, Kroaten und Bosniaken sehen sich als Opfer

Auch daran liegt es, dass sie ein Urteil in Den Haag heute immer noch als "Krise" bezeichnet, was die Wahrnehmung des Gerichts im früheren Kriegsgebiet betrifft. Die Gesellschaften in Bosnien, Serbien und Kroatien eine, dass man sich jeweils als Opfer ansehe. Folglich empfinde man den ICTY wahlweise als anti-serbisch oder anti-kroatisch, und in Bosnien kritisieren Opfer, dass die Urteile zu lasch seien. Auf diese Einstellungen treffen auch die Outreach-Mitglieder, wenn sie zu Veranstaltungen in der Region unterwegs sind.

Aber nicht nur: Pejic-Sremac berichtet auch von Erlebnissen, die Mut machen: der Unterstützung durch die Zivilgesellschaft, von jungen Menschen, die in Umfragen sagen, Kriegsverbrechen gehörten vor Gericht - unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Sie erzählt von einer Schule im bosnischen Städtchen Stolac, wo sich die zuvor getrennten kroatischen und bosnischen Kinder während einer Outreach-Veranstaltung erstmals begegneten, und von einem Essay-Wettbewerb für Schüler und Studenten. "Wir bekamen unglaublich viele Einsendungen. Und beim Lesen merkte man: Es gibt Hoffnung."

Dass der Gerichtshof zu den Menschen geht, den Überlebenden und ihren inzwischen geborenen Nachkommen, ist offensichtlich nötig. Ebenso wie die Bewegung in die umgekehrte Richtung: Denn ohne die Zeugen aus Bosnien und Kroatien, Serbien und dem Kosovo hätte in Den Haag kein einziges Verfahren stattfinden können. Mehr als 4600 waren es seit dem ersten Prozess 1996 - knapp die Hälfte aus Bosnien, 10 Prozent aus Kroatien 13 Prozent aus Serbien, der Rest aus Ländern, in die sie inzwischen migriert waren.

Der letzte Ort, den sie vor ihrer Aussage aufsuchten, liegt im zweiten Stock des Tribunals. Eine kleine Sitzecke mit Polstermöbeln um einen niedrigen Tisch, ein Kühlschrank in der Ecke vor einer blassgelben Wand. Das ist der bescheidene Witness-Waiting-Room. Zwei Wochen vor dem letzten Urteil hat Helena Vranov-Schoorl noch einmal hier Platz genommen, wo sie hunderte von Stunden mit den Zeugen wartete. Sie ist die Vorsitzende der "Victims and Witnesses Support and Operations Unit" (VWS).

Vor 16 Jahren kam die frühere Sozialarbeiterin, die als Jugendliche mit den Eltern aus Kroatien in die Niederlande zog, ans ICTY. Die Zeugen-Abteilung, zu Hochzeiten mit über 40 Mitarbeitern und heute mit 17, ist neutral zwischen Anklage und Verteidigung und daher ein logistischer Knotenpunkt des Tribunals. Sie nimmt Kontakt mit den betreffenden Personen auf, regelt jeden nötigen Schritt für die Reise nach Den Haag, besorgt Tickets, Visa und womöglich eine Betreuung für Kinder oder andere Angehörige, wenn die Zeugen ihre rund einwöchige Reise antreten.

"Wenn nötig, begleiten wir sie auch unterwegs", sagt Helena Vranov-Schoorl. "Jedenfalls holen wir sie vom Flughafen ab, bringen sie ins Hotel und ins Gericht. Wir zeigen ihnen Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten und sind 24 Stunden für sie erreichbar - auch nach ihrer Rückkehr." Auch Sicherheitsmaßnahmen kann die VWS veranlassen, wenn sich das im Gespräch als nötig herausstellt. Knapp 30 Prozent entschieden sich dafür, während der Aussage Stimme, Gesicht oder ihren Namen zu verändern. Wut, Trauer, Verletzbarkeit, Traumatisierung - all dies hat Vranov-Schoorl bei Zeugen erlebt. Was die meisten eint, ist: "Sie sind glücklich, dass sie hierher kommen und ihre Geschichte erzählen können. Weil es ihre Geschichte ist, ihre Wahrheit, und sie wollen sie teilen." Das ICTY bewertet sie ausgesprochen positiv. Nicht zuletzt, weil ihre Abteilung Standards gesetzt habe, die von anderen Tribunals übernommen wurden. Und ganz allgemein findet sie: "Stell Dir vor, wo wir ständen, wenn es kein Tribunal gegeben hätte! Das sagte ein Zeuge mal zu mir. Dem schließe ich mich an."

Beliebte Anlaufstellefür Journalisten

An sich teilt auch Nevenka Tromp diese Meinung. "Ohne das Tribunal hätten wir weniger umfassend verstanden, warum und wie es zu den Kriegen kam", bilanziert sie. "Auch bei der Verfolgung serbischer Täter in Bosnien und im Kosovo hat das ICTY sehr gute Arbeit geleistet." Über zehn Jahre lang war sie selbst als Ermittlerin in einem Investigations-Team der Anklage tätig. Wer sich näher mit dem Gericht beschäftigt, landet schnell bei der Wissenschafterin, die an der Amsterdamer Universität Osteuropa-Studien lehrt.

Wenn am Tribunal ein wichtiges Urteil ansteht, ist ihr Haus in Den Haag eine beliebte Anlaufstelle für Journalisten. Was daran liegt, dass Nevenka Tromp auf eigene Faust weitermachte, als Slobodan Miloevic 2006 nach vier Prozess-Jahren starb. Sie tauchte weiter in die Akten ein, schrieb eine Doktorarbeit und ein Buch darüber. Befund: Es gab einen Masterplan, alle Serben in Ex- Jugoslawien in einen ethnisch homogenen Staat zu vereinen. Miloevic war dessen Architekt, Karadzic und Mladic hatten bei dem Unterfangen wichtige ausführende Funktionen.

Wird die Rolle Mladics

eindeutig geklärt?

Weil Miloevic alleine angeklagt war, wurde sein Verfahren nach seinem Tod geschlossen. Damit verschwand der "übergreifende Ansatz", den Tromp bis heute vertritt, der sie schon das Urteil gegen Karadzic kritisieren ließ. Wegen des Freispruchs in einem der Genozid-Anklagepunkte. Weil er anders als mehrere bosnisch- serbische Militärs nicht lebenslänglich bekam. Und eben, weil seine Beziehungen zu Belgrad nicht ausreichend aufgeklärt worden seien. Das Gleiche befürchtet sie nun auch, wenn am Mittwoch das Urteil gegen Mladic verkündet wird. "Es wird interessant zu sehen, ob dadurch seine eigentliche Rolle geklärt wird. Ich denke, dass der Richter auch hier sagen wird, es gebe nicht genug Beweise für eine direkte Verbindung mit Serbien. Die Anklage konnte damals diesen übergreifenden Plan nicht beweisen.

Möglich ist das aber nur, wenn man seine Beweise von Belgrad aus zu den Unterteilen führt, und nicht mit einer Beweisführung von Pale ausgehend." Hoffnung hat Nevanka Tromp dennoch: Dass das Urteil "nicht kontrovers ausfällt".