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"Nordirland darf kein Waisenkind werden"

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Irland und Nordirland werden stark vom Brexit betroffen sein, sagt der irische Ökonom John FitzGerald.


"Wiener Zeitung": In Dublins Docklands werden immer mehr neue Büroblocks hochgezogen. Freut die Iren der Brexit? Bereitet sich Irland auf einen Banken-Exodus aus London vor?John FitzGerald: Wenn bis Dezember keine Übergangsregelung für den Austritt vereinbart ist und alles weiter ungewiss bleibt, muss der im Vereinigten Königreich angesiedelte Finanzsektor in den ersten drei Monaten des nächsten Jahres Entscheidungen treffen. Gibt es im Dezember keinen Deal, werden wir bald einen erheblichen Abzug sehen. Firmen aus aller Welt, nicht nur Finanzfirmen, finden sich jetzt wegen Brexit in Großbritannien in einer schwierigen Lage. Viele werden nach und nach Geschäftsbereiche in die EU verlagern wollen.

Wie groß sind die Erwartungen in Dublin? Kommen da ein paar tausend Jobs auf Irland zu?

Wesentlich mehr als das, würde ich mal annehmen. Langfristig, schätzt man hier, könnte der Zuzug dieser Firmen die irische Wirtschaftskraft um runde drei Prozent erhöhen. Gut, das wäre natürlich ein gradueller Prozess. Nur der Finanzsektor dürfte es eilig damit haben. Er muss sich weiteren Marktzugang zur EU sichern. Er braucht sofortige Sicherheit.

Der Brexit hat ja aber nicht nur sein Gutes für Irland. Von den 27 EU-Partnern Großbritanniens, hört man überall hier in Dublin, wird Irland am meisten unterm Brexit leiden. Einige irische Politiker haben erklärt, der Brexit sei für ihr Land "eine Katastrophe".

Negative Folgen wird das Ganze mit Sicherheit haben. Eine Katastrophe muss es aber nicht sein. Natürlich ist es schwer, Genaues zu den wirtschaftlichen Folgen zu sagen, solange nicht feststeht, wie die künftige Beziehung des Vereinigten Königreichs zur EU aussehen wird.

Gibt es denn Voraussagen für verschiedene Szenarien?

Das Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung hat ja mal kalkuliert, dass Irland wegen Brexit rund vier Prozent seines Bruttonationlandprodukts einbüßen könnte. Ich selbst sehe eine gewisse Bandbreite. Im günstigsten Fall könnte sich beim Abwägen von Plus und Minus ein ganz kleiner Zugewinn ergeben. Falls alles schiefläuft, dürfte Irland dagegen sehr viel mehr verlieren. Es könnte um bis zu acht Prozent schlechter dastehen als zuvor.

Welches sind denn die Entwicklungen, die man in Dublin fürchtet?

Beim Handel und bei Exporten über die Irische See wird sich die Lage verschlechtern. Vor allem, was die Nahrungsmittelproduktion angeht. Irische Farmer werden von den steigenden Kosten am härtesten getroffen werden. Selbst ohne Zölle wird das Volumen der Exporte nach Großbritannien schrumpfen, weil sich dort mit Sicherheit das Wachstum post Brexit verringern wird.

Müsste man in Irland auch mit teureren Importen aus Großbritannien rechnen?

Das ist der Bereich, in dem wir wirklich verletzlich sind. Steigende britische Preise, Zollkosten nach dem EU-Ausstieg aus der Zollunion, verzögerte Zustellung, sinkende Wettbewerbsfähigkeit unseres mit Britannien eng verzahnten Einzelhandels: Das würde für den irischen Verbraucher echte Probleme schaffen. Da kommt ein Rückschlag auf die irische Wirtschaft zu.

Andere Waren kommen vom Kontinent, werden aber auf dem Landweg via Großbritannien befördert?

Millionen Tonnen unserer Importe rollen durchs Vereinigte Königreich. Was wir brauchen, sind feste Transit-Vereinbarungen, geringe Zölle für landwirtschaftliche Transporte, spezielle Abfertigung in Dover und Ähnliches. Das muss Europa für uns aushandeln. Dafür benötigt Irland den Rückhalt der EU. Wir brauchen auch entsprechende Vereinbarungen für Fahrten quer durch Nordirland, zum Beispiel von Dublin nach Donegal, in die Nordwestecke der Republik.

Was hat es auf sich mit der Idee, dass Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs bleibt, aber zugleich auch Teil der EU-Zollunion? Dass eine Zollgrenze rund um die ganze irische Insel gezogen wird?

Das ist, was man so hört, auch die Lösung, die dem britischen Finanzministerium, der Schatzkanzlei, vorschwebt. Das Problem dabei ist die enge wirtschaftliche Verflechtung Nordirlands mit Britannien. Eine Zollgrenze zwischen beiden wäre eine Katastrophe für die Wirtschaft Nordirlands. Es würde ihr gewaltige Kosten aufbürden. Für Nordirland wäre das ruinös.

Ist denn irgendetwas denkbar, womit man eine 500 Kilometer lange "harte Grenze" quer durch Irland vermeiden könnte, wenn das Vereinigte Königreich sich aus der Zollunion verabschiedet?

Nein. Absolut nicht. Um eine Zollgrenze führt kein Weg herum. Britische Ideen wie die, man könne alle Frachten und Personen auf elektronischem Wege überwachen, während sie sich durch Europa bewegen, sind unrealistisch. Europa wird keine gänzlich neue Schicht bürokratischer Überwachung einführen, nur um Großbritannien einen Gefallen zu tun.

Was liegt im irischen Interesse?

In unserem nationalen Interesse kann nur eines liegen: dass das Vereinigte Königreich als Ganzes in der Zollunion bleibt. Das ist ja hier in Dublin immer wieder deutlich gemacht worden. Sollte das britische Parlament irgendwann mal noch die Kontrolle über den Brexit-Prozess übernehmen und einen entsprechenden Kurs einschlagen, wäre das die ideale Lösung für die irische Regierung, und für uns alle hier.

Was wird aus Nordirland? Wird es zum Opfer des Brexit?

Eine Hauptsorge ist, dass die gegenwärtigen Umbrüche im Vereinigten Königreich Nordirland zum Waisenkind machen könnten. Finanziell hängt der Norden ganz von Subventionen aus London ab. Das Zerbröckeln regionaler Solidarität innerhalb des Vereinigten Königreichs, das wir jetzt als Teil des Brexit-Prozesses beobachten, könnte dazu führen, dass der Geldtransfer von London an Nordirland irgendwann teils oder ganz eingestellt wird. Das würde in Nordirland eine Wirtschaftskrise auslösen, die ernste negative Konsequenzen für Lebensstandard und Wohlbefinden dort haben könnte - und genau so ernste Konsequenzen für unsere Wirtschaft hier.

Muss man denn um den nordirischen Frieden bangen, bei einem "harten Brexit"?

Sorgen machen muss man sich schon. Sinn Fein und die IRA sind zwar auf Dauer ins Friedenslager übergewechselt. Aber es gibt eine Menge wilder Kerle dort oben, aus der jüngeren Generation, die nur darauf warten, etwas in die Luft zu sprengen. Zollanlagen könnten so wieder zum Ziel nordirischer Spannungen werden.

Was kann die EU tun, um das zu verhindern?

Die EU muss ihren Einfluss geltend machen, damit London den Belfaster Friedenspakt von 1998, das Karfreitagsabkommen, ernst nimmt. Dafür vor allem brauchen wir den Rückhalt der EU. Mit den finanziellen Folgen des Brexit können wir irgendwie fertig werden. Aber den Frieden auf der Insel zu erhalten - das ist viel wichtiger für uns.

Zur Person

John

FitzGerald

Historiker, Finanzexperte und langjähriger Forschungsleiter am irischen Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung (ESRI), ist Professor für Wirtschaftspolitik am Trinity College Dublin. Er berät in diversen Funktionen die irische Regierung.