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Erweiterung ist Bereicherung, nicht Last

Von Martyna Czarnowska

Politik

Kommissar Hahn über neue Chancen für den Westbalkan und ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten.


Für die Länder des Westbalkans kann das kommende Jahr neuen Schwung in die EU-Beitrittsverhandlungen bringen. 2018 wird zunächst Bulgarien, danach Österreich den EU-Vorsitz innehaben. Darauf folgt Rumänien. Alle drei Mitglieder setzen sich für eine Aufnahme der Westbalkan-Staaten in die Europäische Union ein. Im Mai ist in Sofia eine groß angelegte Konferenz dazu geplant. Noch davor, im Februar, will die EU-Kommission eine Westbalkan-Strategie vorlegen.

Der für die Erweiterungsverhandlungen zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn zeigt sich im Interview mit der "Wiener Zeitung" optimistisch, dass mittlerweile auch in der EU die Bereitschaft gestiegen sei, den Erweiterungsprozess zu beschleunigen.

*****<p>"Wiener Zeitung": Das kommende Jahr werde ein gutes für die Erweiterung, betonen Sie immer wieder. Was ist denn jetzt anders als noch vor einem Jahr?

Johannes Hahn: Wir beginnen politisch die Früchte dessen zu ernten, was wir gesät haben. In den Mitgliedstaaten ist jetzt mehr Bereitschaft da, sich mit der Erweiterung auseinanderzusetzen. Denn es wird anerkannt, dass auf dem Balkan Frieden einkehren kann und die EU-Perspektive dafür ausschlaggebend ist. Als ich mein Amt angetreten bin, war ja eher der falsche Eindruck: Die Erweiterung ist tot.

So ungefähr hat das EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner ersten Rede zur Lage der Union vor zwei Jahren ja auch gesagt. War das kontraproduktiv?

Das haben viele in die falsche Kehle bekommen. Technisch stimmt zwar, dass in diesem Kommissionsmandat kein Beitritt stattfindet. Doch sind in den vergangenen Jahren in etlichen Ländern viele Entwicklungen von uns angeschoben worden. In der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien etwa - die sich mit unserer Unterstützung aus einer schweren Verfassungskrise gehievt hat - wird deutlich, wie mit dem Engagement Europas Veränderungen möglich sind. Auf der anderen Seite ist der Westbalkan für die EU ein attraktiver Markt. Es sind rund zwanzig Millionen Menschen, die in ihrem Wohlstand noch Potenzial nach oben haben.

Gleichzeitig pochen Sie aber auch darauf, dass es nicht nur um wirtschaftliche Interessen gehen soll, sondern die Länder ebenso bestimmte Werte und demokratische Standards zu erfüllen haben.

Manchmal gibt es das Gefühl, dass die europäische Aspiration in der Region vorwiegend von der Erkenntnis dominiert ist, dass Europa der wichtigste Wirtschafts- und Finanzpartner ist. Aber die Europäer sollten nicht wie ein Bankomat betrachtet werden, sondern es geht um gelebte europäische Werte. Dafür gibt es auf dem Balkan auch Beispiele: In der Flüchtlingskrise 2015 haben die betroffenen Länder eine Haltung an den Tag gelegt, die exemplarisch war, selbst für EU-Mitglieder. Sie waren voll engagiert, die Situation in einem Geist der Solidarität zu bewältigen.

Könnte da nicht auch Griechenland solidarischer mit seinem Nachbarn Mazedonien sein, dessen Weg in die EU und Nato Athen wegen eines Namensstreits blockiert?

Die EU-Kommission hat schon neun Mal empfohlen, Beitrittsverhandlungen mit Skopje aufzunehmen. Die Atmosphäre zwischen den beiden Nachbarstaaten hat sich dank der aktiven Bemühungen der gegenwärtigen mazedonischen Regierung mittlerweile sehr verbessert. Wir haben nun ein Zeitfenster bis Mitte nächsten Jahres, bevor der Wahlkampf für den Urnengang in Griechenland beginnt. Und es wächst das Verständnis dafür, dass eine politische Lösung gesucht werden muss. Es gibt in der griechischen Regierung auch die Bereitschaft dazu. Außerdem gibt es mittlerweile ebenso in anderen Mitgliedstaaten die Erkenntnis, dass die Länder eine EU-Perspektive brauchen, um nicht abzurutschen. Ohne das europäische Fangnetz wird nichts passieren.

Die EU als Gouvernante?

Was ich in der Region immer sage, ist: "Ihr müsst wirtschaftlich so weit kommen, dass Menschen, die Arbeit im Ausland gesucht haben, wieder zurückkehren, weil es in ihrer Heimat Perspektiven für sie gibt." Umgekehrt muss in der EU die Überzeugung entstehen, dass ein neues Mitgliedsland keine Belastung ist, sondern eine Bereicherung.

Also sind es doch vor allem ökonomische Aspekte?

Ohne wirtschaftliche Perspektive wird es auch keine Fortschritte auf dem Sektor der Rechtsstaatlichkeit geben. Ein Problem in der Region stellt nämlich noch immer Korruption dar, auch auf lokaler Ebene und im Alltag. Das ist eine Schwäche des Systems, die ausländische Investoren ebenfalls abschreckt. Sie werden sicher nicht in ein Land investieren, in dem keine Rechtssicherheit und -staatlichkeit herrschen. Die Wirtschaft ist also ein wichtiges Argument, selbst für die Beharrungskräfte in diesen Ländern, um in den Bereichen Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Fortschritte zu erzielen.

Die Rechtsstaatlichkeit wird derzeit sogar in einem Mitgliedsland geprüft: in Polen. Und auch Ungarn macht der EU-Kommission Sorgen.

Meine Sorge ist, dass die volle Verinnerlichung europäischer Werte noch nicht stattgefunden hat. Es ist eine Hypothek, die ich aber auch als positiv für künftige Mitglieder empfinde: wenn alteingesessene EU-Länder auf bestimmte Werte pochen. Aktuell sehe ich jedoch noch immer eine Differenz zwischen den älteren und vielen jüngeren Mitgliedern: Nicht überall sind die Anerkennung europäischer Standards jenseits der reinen Ökonomie, des Respekts vor der Meinung anderer, der Notwendigkeit des gegenseitigen Helfens, also Solidarität, angekommen.

Sprechen Sie damit nicht Klüfte an, die schon längst überwunden sein sollten?

Sie waren vielmehr übersehen. Wir hatten die Beitrittseuphorie im Jahr 2004, weil das in den Augen vieler die Vollendung des Falls des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung des freien Europas war. Eingebettet war es in eine wirtschaftliche Boom-Phase, die etliche Probleme überdeckt hatte. Die sind dann aber in der Finanz- und Flüchtlingskrise wieder zum Vorschein gekommen. Ich vergleiche das mit der Situation einer Firmengruppe, die mit einer anderen fusioniert. Das Wichtigste ist, die unterschiedlichen Unternehmenskulturen zu harmonisieren.

Das klingt nicht nach dem Konzept eines Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, das etwa von Frankreich lanciert wird.

Im Gegenteil. Ich bin kein Verfechter der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. In dem Moment, wo wir diese zulassen, entwickeln sich unterschiedliche Gebilde. Wenn wir eine Gemeinschaft der 28 und später vielleicht mehr bilden wollen, die als solche in der Welt auftritt, müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, dass die Schwächeren aufholen können. Sogar das Argument, dass manche Staaten zu früh aufgenommen wurden, hat eine Kehrseite. Denn selbst der vermeintlich falsche Zeitpunkt hat dazu geführt, dass sich Länder integrieren. Wären Bulgarien und Rumänien nicht der EU beigetreten, wären sie bezüglich ihrer demokratischen Verfasstheit wohl wieder abgedriftet. Deswegen bin ich auch gegen ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Es wäre der Anfang vom Ende.