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Katalonien am Scheideweg

Von WZ-Korrespondent Manuel Meyer

Politik

Bei den Regionalwahlen am Donnerstag wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet.


Barcelona. Nein, Frustration sei nicht der richtige Begriff. Sie befürchtete schon, dass die Ausrufung der Unabhängigkeit Kataloniens Mitte Oktober nur ein symbolischer Akt war, da die spanische Zentralregierung bereits vorher das Ergebnis des Referendums am 1. Oktober schon nicht akzeptiert hatte. "Aber enttäuscht bin ich schon", gibt Julia Vernet zu.

90 Prozent stimmten bei dem verbotenen Referendum für die Abspaltung von Spanien. Es nahmen aber nur 42,3 Prozent aller Wahlberechtigten an dem Referendum teil.

Julia war das egal. Monatelang habe man auf den Straßen für die Unabhängigkeit und das Recht auf Selbstbestimmung protestiert. Und die separatistischen Regierungsparteien weckten die Hoffnung, der Traum von einem unabhängigen Katalonien könnte wirklich wahr werden. "Vielleicht waren sie zu blauäugig oder versprachen uns Dinge, von denen sie wussten, dass sie sie nicht halten könnten", meint die 21-jährige Philosophie-Studentin aus Barcelona.

Dennoch will Julia den Separatisten am 21. Dezember bei den Regionalwahlen erneut ihre Stimme geben. "Was bleibt mir anderes übrig. Ich fühle mich nicht als Spanierin und glaube, wir haben ein Recht darauf, eine eigene Nation zu sein." Noch dazu habe ihr Spanien mit der Polizeigewalt während des Referendums und der anschließenden Absetzung der Regierung gezeigt, "dass wir in einem faschistischen Unterdrückerstaat leben".

"Diesmal langsamer und besser vorbereitet"

Robert Fabregat, Kandidat der separatistischen Linksrepublikaner (ERC), versteht die Gefühle der Studentin gut. "Es war vielleicht unser Fehler. Wir haben die Lage falsch eingeschätzt. Aber wir hätten niemals erwartet, dass der spanische Staat so viele rote Linien überschreiten würde, um den Wunsch einer großen Mehrheit der Bevölkerung einfach so zu unterdrücken", erklärt Fabregat.

Seine Partei ERC, die zusammen mit Carles Puigdemonts konservativen Nationalisten der PDeCAT bis Mitte Oktober in Katalonien regierte, gilt bei den von Madrid angesetzten Neuwahlen nun als Favoritin. Die Wahlkampfstrategie geht auf. Fabregat, ein 36-jähriger Chemiker aus der Pharmaindustrie, spricht vom "spanischen Knüppelstaat" und den "politischen Gefangenen". Oriol Junqueras, Spitzenkandidat der Linksrepublikaner und zuvor Vize-Ministerpräsident unter dem nach Brüssel geflüchteten Puigdemont, sitzt wegen Rebellion immer noch in Untersuchungshaft.

Es scheint, als hätte die Partei aus den Fehlern gelernt. "Sollten wir die Wahlen am Donnerstag gewinnen, werden wir unseren Weg in die Unabhängigkeit weiterverfolgen. Diesmal aber langsamer und besser vorbereitet", sagt Fabregat.

Die Chance, dass die separatistischen Parteien bei den Wahlen immerhin erneut zusammen der stärkste Block werden, sind durchaus realistisch. Das Problem: Alle Umfragen sagen ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem separatistischen Block und den sogenannten "verfassungskonformen" Parteien voraus, die sich klar gegen die Unabhängigkeit aussprechen. Denn wie bereits die jüngsten Wahlen gezeigt hatten, ist die katalanische Bevölkerung fast gleich stark in zwei Lager geteilt.

"Die Unabhängigkeitsgegner waren bisher allerdings weniger mobilisiert als die Befürworter. Nun dürfen wir bei den Wahlen allerdings eine Rekordbeteiligung von über 80 Prozent erwarten. Das könnte die Machtverhältnisse verschieben", meint Miquel Molina, stellvertretender Chefredakteur bei Kataloniens größter Tageszeitung "La Vanguardia". Nach der Ausrufung der Republik im Oktober hätten viele "gemerkt, dass die Separatisten ihren Weg ohne Wenn und Aber durchziehen. Viele haben bei einem Fortgang des Unabhängigkeitsprozesses zudem Angst vor den wirtschaftlichen Folgen. Bereits 3000 Firmen haben ihren Sitz wegen der politischen Wirren in andere Regionen Spaniens verlegt", so Molina.

Neue Machtverhältnisse durch bisher schweigende Mehrheit

Auf diese traditionellen Nicht-Wähler baut auch Inés Arrimadas. "Die Menschen haben regelrechten Hunger nach einem Wechsel. Sie wollen nicht mehr von Politikern regiert werden, die ihre persönlichen Träume über das Wohl der Menschen stellen. Puigdemont war der Präsident der Separatisten. Ich werde die Präsidentin aller Katalanen sein", verspricht die Spitzenkandidatin der liberalen Ciudadanos am Sonntagabend vor 5000 Zuhörern in der Kongresshalle von L’Hospitalet de Llobregat vor den Toren Barcelonas.

Sie feuert die "jetzt erwachende schweigende Mehrheit" an,
am Donnerstag in Massen zu wählen, damit "der separatistische Albtraum, der unser Volk gespalten und die Wirtschaft in den Ruin getrieben hat, endlich aufhört". Die 36-jährige Juristin ist bekannt für ihre flammenden Reden und die große Hoffnung für Kataloniens Unabhängigkeitsgegner.

Die bisherige Oppositionsführerin könnten laut jüngsten Umfragen bei den Wahlen fast gleichziehen mit den Favoriten der separatistischen Linksrepublikaner. Sie verspricht, die Firmen zurückzuholen, die im Zuge der Unabhängigkeitswirren abgewandert sind. Und wirbt damit, im Madrider Parlament eine Verfassungsreform anzustoßen, die Spanien föderaler und damit auch für die Unabhängigkeitsbefürworter wieder attraktiver macht.

Ob die wortgewandte Juristin oder der immer noch inhaftierte ERC-Chef Oriol Junqueras, beziehungsweise seine Stellvertreterin Marta Rovira, allerdings wirklich Katalonien regieren werden, steht in den Sternen.

Derzeit sieht es so aus, dass keine Seite eine regierungsfähige Mehrheit erhalten wird. "Katalonien droht, unregierbar zu werden. Vielleicht werden wir in einigen Monaten schon wieder wählen müssen", befürchtet Molina.

Die einzige Lösung: Wenn zwei sich streiten, freut sich ein Dritter. Und der könnte Miquel Iceta heißen. Der Spitzenkandidat der katalanischen Sozialisten (PSC) ist als Brückenbauer zwischen verschiedensten Parteien bekannt und vereint einen gemäßigten Nationalismus ohne Unabhängigkeitsambitionen mit sozialer Linkspolitik. Ein transversales Linksbündnis mit dem linken Wahlbündnis "Catalunya En Comu - Podem" und den separatistischen Linksrepublikanern ERC gilt als schwierig, aber auch als einzige Alternative, sollte es wie erwartet zur Blockade zweier gleich starker Blöcke kommen.

Unabhängigkeit als bloßes Mittel für mehr Wohlstand

Die Linksrepublikaner können sich ein solches Bündnis durchaus vorstellen. Sie geben es zwar während der Wahlkampagne nicht offen zu. Doch selbst Robert Fabregat gesteht ein: "Die Unabhängigkeit ist nicht das Ziel, sondern der Weg, den Wohlstand der Katalanen zu verbessern. Hierbei sind wir flexibel und können auch einen Gang zurückschalten."

Nun hängt alles von einem nur schwer vorhersehbaren Urnengang ab. Katalonien steht am Scheideweg. Die Emotionen schaukeln immer noch hoch. Zu wenig Zeit ist seit den aufwühlenden Geschehnissen im Oktober vergangen. Auch für Philosophiestudentin Julia Vernet.

"Ich hoffe, wir werden Madrid und Europa am Donnerstag erneut beweisen, dass wir eine Mehrheit sind, welche die Unabhängigkeit möchte. Aber ich bin auch realistisch. Madrid wird selbst bei einem überwältigenden Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter keine Abspaltung zulassen", so Julia.

Dennoch ist sie zuversichtlich: "Die Ausrufung der Republik im Oktober war zumindest ein weiterer Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Ich werde sie aber wohl erst erleben, wenn ich schon viel älter bin", sagt sie und fasst sich dabei an die gelbe Schleife an ihrer Jacke. Es ist das überall sichtbare Solidaritätssymbol mit den politischen Gefangenen.