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"Timmermans will uns seinen Willen aufzwingen"

Von Gerhard Lechner

Politik

Der PiS-Politiker und Kaczynski-Berater Zdzislaw Krasnodebski über Polens Probleme mit der EU, europäische Utopisten und seine Sicht auf die Tragödie von Smolensk.


"Wiener Zeitung": Nach zwei Jahren in Regierungsverantwortung steht Ihre nationalkonservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) in Umfragen gut da. Dennoch hat man Premierministerin Beata Szydlo jüngst durch Mateusz Morawiecki ersetzt. Warum?

Zdzislaw Krasnodebski: Man wollte einfach andere Prioritäten setzen. Die Regierung von Beata Szydlo hatte viele Erfolge, vor allem im Bereich der Sozialpolitik. Jetzt möchte man mit Morawiecki, einem Mann aus der Wirtschaft, andere Signale setzen. Der neue Premier steht für Modernisierung und High-Tech. Beata Szydlo war über zwei Jahre Premierministerin, das ist für Polen ziemlich lange. Nur zwei Premierminister waren länger im Amt als sie.

In Deutschland ist Angela Merkel 12 Jahre im Amt, da wirken zwei Jahre nicht wirklich lang.

Das ist genau der springende Punkt. Die Deutschen messen uns an ihrer politischen Kultur. In Polen ist die Vorstellung, dass jemand 12 Jahre regiert und dann noch weitere vier Jahre im Amt sein will, unvorstellbar. Unsere Medien würden dann über "einbetonierte Verhältnisse" schreiben. Es gab einfach kleine Reibungsverluste zwischen den Ministerien, und man dachte, es wäre gut, wenn jetzt ein anderer Premier das Ruder übernimmt.

Apropos Deutschland: Die PiS fällt oft mit scharfer Rhetorik gegenüber Berlin auf. Was stört die PiS eigentlich am heutigen Deutschland? Die Bundesrepublik unter Kanzlerin Angela Merkel gibt sich doch betont europäisch, anti-nationalistisch und kompromissbereit.

Ich sehe das komplett anders. Es ist umgekehrt. Wir haben gehofft, dass wir Spannungen mit Deutschland vermeiden können. Es kam allerdings anders. Polens neue Regierung stand von Anfang an unter einer Kanonade an teils absurder Kritik seitens deutscher Medien. Manche haben Polen ja mit Staaten wie der Türkei oder Russland verglichen. Diese Berichte haben dazu beigetragen, dass die Atmosphäre von vornherein vergiftet war. Dann gab es auch von Regierungsmitgliedern wie Justizminister Heiko Maas überzogene Kritik. Die Gespräche, die hinter den Kulissen stattfanden, waren dabei aber lange ganz freundlich, auch die zwischen Angela Merkel und Jaroslaw Kaczynski.

Bei denen Sie dabei waren.

Ja. Leider hat dann Deutschland gegen den Willen Polens und ohne Absprache mit uns darauf bestanden, dass Donald Tusk Ratspräsident wird. Man versuchte erst gar nicht, einen Kompromiss zu finden - obwohl das möglich gewesen wäre. Deutschland ist in Wahrheit ein Land, das seine Interessen sehr robust vertritt. Ein Paradebeispiel ist etwa die Gasleitung Nord Stream 2. Da kümmert man sich ja auch nicht um die Kritik der EU-Kommission und des Europaparlaments.

Was stört die polnische Regierung eigentlich so an Tusk? Gerade aus der patriotischen Perspektive der PiS hätte Polen doch allen Grund, stolz zu sein, dass es den Ratspräsidenten stellt.

Es gibt in der EU geschriebene und ungeschriebene Regeln. Nachdem es keine geschriebene Regel gibt, wie man den Ratspräsidenten wählt, gilt die ungeschriebene Regel, dass man in wesentlichen Personalfragen den Konsens sucht. Das ist nicht geschehen, man hat Tusk gegen den Willen des Landes, aus dem er stammt, durchgesetzt - und damit gleich noch eine ungeschriebene Regel verletzt. Tusk war nicht der Kandidat Polens, er war der Kandidat von Angela Merkel. Unser Kandidat Jacek Saryusz-Wolski, ein erfahrener, proeuropäischer Politiker aus der gleichen Partei wie Tusk, wurde nicht einmal angehört. Wir haben unterschiedliche Vorbehalte gegen Tusk, zum Beispiel hat er sich in seiner Funktion als Ratspräsident mehrmals in polnische Innenpolitik eingemischt. Das ist hier aber nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass man diese Regeln missachtet hat, und das war ein ganz bewusster Machtakt Deutschlands. Es hat unsere ausgestreckte Hand nicht ergriffen.

Spätestens seit der Migrationskrise gibt es in Europa einen immer stärkeren Gegensatz zwischen dem Zentrum der EU auf der einen und den ostmitteleuropäischen Visegrad-Staaten auf der anderen Seite. Insbesondere Polen und Ungarn wird außerdem vorgeworfen, die Demokratie abzubauen und auf einen autoritären Staat zuzusteuern.

Solche Zuschreibungen entstehen oft aus einer Mischung aus bösem Willen und Ignoranz. Die Kritiker kennen die Situation in Polen nicht und verstehen nicht, warum unsere Reformen so wichtig sind.

Und warum sind sie es?

Etwa weil die Justiz seit der Zeit des Kommunismus nicht reformiert wurde. Das zeigt sich auch in den Umfragen: Neben dem Gesundheitswesen klagen die Bürger vor allem über die Gerichte. Erstens haben sich im Justizwesen viele Missstände aus der Zeit des Kommunismus erhalten. Zweitens grassiert die Korruption. Im Justizwesen nominieren sich die Richter bisher selbst. Es sind geschlossene, elitäre Kreise entstanden. Die wollen natürlich nicht, dass man das aufbricht.

Und die Kritik, wonach die PiS den Verfassungsgerichtshof okkupiert hat?

Manche Kritiker, die Polen wegen seiner Reformen an den Pranger stellen, kommen aus Ländern, die selbst gar keinen Verfassungsgerichtshof kennen. Die frühere Regierung der Bürgerplattform (PO) hat noch kurz vor den Parlamentswahlen, die sie dann verloren hat, ein Gesetz verabschiedet, um den Gerichtshof unter eigene Kontrolle zu bringen. Diese Verfassungsverletzung führte dann zu dem Streit, den wir heute haben. Unabhängig davon, wie man diese Vorgänge bewertet: Es ist sicher nicht so, dass es da vorher ein reines, jedem politischen Einfluss enthobenes Verfassungsgericht gegeben hätte, sondern es gab eines, das völlig von der Bürgerplattform kontrolliert war. Die Behauptungen, in Polen würden die Grundrechte von Menschen verletzt, sind wirklich irrational und völlig absurd.

Sie sind Europaabgeordneter. Die EU wird im Allgemeinen als Friedensprojekt angesehen, manche, etwa die Politologin Ulrike Guerot oder der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, fordern die Errichtung einer "Republik Europa". Sie sagen, die Krisen der EU sind aufgrund der Eigensinnigkeit der Nationalstaaten entstanden. Wäre die Schaffung einer Republik Europa nicht ein lohnenswertes Ziel?

Dieses Modell ist eine utopische Träumerei. Ich kenne Ulrike Guerot, ich habe mit ihr auch einmal in Brüssel diskutiert. Ihr Modell ist zwar voll Enthusiasmus, geht aber an der Realität vorbei. Wir in Polen haben durch die kommunistische Erfahrung gelernt, wie gefährlich Utopien sein können, auch wenn sie gut gemeint sind - all diese Träume, einen neuen Menschen zu erschaffen, jetzt vielleicht einen neuen Europäer. Eine solche Republik hätte keinen Demos. Das Spezifische an Europa ist eben, dass wir unterschiedliche Nationen haben mit ganz unterschiedlichen Traditionen. Neben Nationalstaaten wie Polen oder Frankreich gibt es auch Staaten mit mehreren Volksgruppen. Das ergibt ein sehr buntes, vielfältiges Bild. Jedes Land, jede Nation hat eine andere Geschichte. Soll das alles verschwinden, weil Frau Guerot möchte, dass Europa eine Republik wird?

Aber würde das alles denn wirklich verschwinden?

Es dürfte sich doch vereinheitlichen. In gewissem Sinne ist die EU bereits eine interessante, lockere politische Einheit. Ich würde sagen, sie ist nicht zufällig so locker, und zwar, weil diese Differenzen eben bestehen. Versuche, das vielfältige europäische Gewebe ins Korsett einer Republik zu zwingen, können nicht gelingen. Eine Republik ist immer unteilbar, sie ist immer einheitlich, hat eine Regierung mit klar definierten Kompetenzen und Direktwahlen. Die Idee, dass ein Beamter am Schumannplatz besser weiß, wie die Österreicher oder Polen regiert werden sollen, die Idee, er könne die polnische Verfassung besser deuten - das ist erstens eine gefährliche Illusion und zweitens eine Verletzung der EU-Regeln. In einer solchen Republik von Frau Guerot würde ich mich, glaube ich, nicht wohlfühlen. Ich kenne diese glühenden Europäer - da hätte ich schon Angst, dass es in Europa einen Platz für Andersdenkende nicht mehr gibt.

Warum?

Weil sie so überzeugt sind, dass sie recht haben, dass die Geschichte hinter ihnen steht, dass sie das Gute vertreten. Sie wollen alles unifizieren, weil sie keinen Sinn für Differenzen haben, für die unterschiedlichen politischen Kulturen. Es geht mir auf die Nerven, dass EU-Kommissar Frans Timmermans, der keine Ahnung hat von polnischer Geschichte, uns aufzwingen will, wie wir regiert werden. Er macht das vielleicht mit der besten Intention, die polnische Verfassung zu verteidigen. Aber in der polnischen Verfassung steht nicht geschrieben, dass sie Herr Timmermans oder die EU-Kommission zu verteidigen haben. Wir müssen diesen politischen Streit unter uns ausmachen. Generell kenne ich viele solche Leute auch im universitären Bereich, und ich kann Ihnen versichern, das sind Leute, die sich nicht mit sehr viel Toleranz und Sinn für Unterschiede, mit Humor und der Bereitschaft, andere Ansichten anzuhören und Differenzen auszuhalten, auszeichnen.

Während Polen mit dem liberalen EU-Establishment in Konflikt steht, verfolgt Russlands Präsident Wladimir Putin eine konservative Politik und inszeniert sich als christliche Schutzmacht und Alternative zum liberalen EU-Europa. In Ungarn hat er damit Erfolg. Steht die PiS nicht auch Russland ideologisch näher als dem Westen?

Tatsächlich ist Russland heute für viele europäische Konservative oder Rechte attraktiv. Besonders in Frankreich wird Putin als Verteidiger konservativer Werte gesehen. Wir Polen allerdings glauben nicht daran, dass Russland, ein Land, in dem es immer despotische Tendenzen gegeben hat, der Verteidiger des Christentums ist. Das unterscheidet uns von anderen. Ungarns Premier Viktor Orban hat ein besseres Verhältnis zu Russland und zu Putin. Wir teilen diese Illusionen nicht. Es ist eine Wahl der Zivilisation. Wir in Polen vertreten die Zivilisation der Freiheit. Freiheit und die Achtung der Person haben in der polnischen Kultur immer viel bedeutet. In Russland hat das Individuum, die Einzelperson, nicht so einen großen Wert.

Die Tragödie von Smolensk, der Absturz der Präsidentenmaschine im April 2010 wird von manchen Anhängern der PiS als russisches Attentat mit zumindest indirekter Beteiligung Donald Tusks angesehen. Für westliche Beobachter wirkt diese These wie eine absurde Verschwörungstheorie. Könnte es nicht sein, dass es sich bei der Attentatsthese um polnische Nationalmythologie handelt, dadurch befeuert, dass sich der Absturz auch noch in der Nähe von Katyn ereignete, dem Ort, an dem Stalin die polnische Elite hinrichten ließ?

Die offizielle Stellungnahme der jetzigen Regierung ist bis jetzt, dass die Ursache der Katastrophe nicht geklärt ist. Für die Regierung Tusk war das anders. Der damalige Außenminister Radoslaw Sikorski wusste schon nach zwei Minuten, dass ein Pilotenfehler im Nebel den Absturz ausgelöst hat. Er hat diese Information per SMS weitergegeben, die dann wiederholt wurde. Wir glauben, dass viel undurchsichtig ist und nicht zusammenpasst. Die Untersuchung sprach allen Prinzipien einer ordentlichen Ermittlung Hohn.

Wieso?

Ich habe vorher von menschlicher Würde, von der Achtung der Person gesprochen. In der polnischen Tradition betrifft das auch die Toten. Die Art und Weise, wie die russische Behörde mit Zustimmung der Tusk-Regierung die Opfer dieser Katastrophe - oder dieses Attentats - behandelt hat, ist unannehmbar. Man hat keine richtige Autopsie durchgeführt, hat die Leichname vermischt. Die Angehörigen wussten nicht, wer sich in welchem Sarg befand. Es ist unglaublich, ein einziger Skandal. Zweitens war das keine einfache Katastrophe. Fast alle polnischen Generäle sind umgekommen, der Präsident und seine Gemahlin, also die polnische Elite. In solchen Fällen muss man eine ganz transparente und sorgfältige Untersuchung machen mit internationaler Beteiligung, um jeden Zweifel auszuräumen. Nicht so etwas. Russland hat das Wrack nicht zurückgegeben, die Black Box ist immer noch dort. Niemand wurde bestraft oder angeklagt, auch die Fluglotsen nicht, die Fehler gemacht haben. Die Meinung, die im Westen vorherrscht, ist das Ergebnis dessen, was man heute Fake News nennt. Man setzt ein Kommuniqué in die Welt und alle glauben es. Was Donald Tusk betrifft, ist meine persönliche Meinung, dass er seine Pflichten als polnischer Premierminister grob verletzt hat. Ich würde mich nicht scheuen zu
sagen, dass das Landesverrat war. Tusk hat die Untersuchung in
die Hände der Russen gegeben, hat nicht gefordert, dass internationale Experten hinzugezogen werden müssen, hat zugelassen, dass es keine Autopsie gab, und so weiter.

Und warum soll er das gemacht haben?

Meiner Meinung nach wegen der Politik des "Resets" mit Russland, die die damalige Regierung verfolgt hat. Man hat diesen Reset sogar nach der Smolensk-Katastrophe noch intensiviert. 2010 war der russische Präsident Dmitri Medwedew in Warschau, auch Außenminister Sergej Lawrow. Man baute die russisch-polnische Freundschaft auf den Leichen der Opfer von Smolensk auf.

Und was soll denn nun wirklich zum Absturz der Maschine geführt haben?

Bis jetzt ist es leider nicht gelungen, die Ursache herauszufinden. Manche Untersuchungen sprechen von einer Explosion an Bord, bewiesen ist das aber nicht. Wir wissen nur eines: Dass die offizielle Version, dass die Absturzursache der Zusammenstoß eines Flügels mit einer Birke war, falsch ist. Vielleicht werden wir die Wahrheit nie erfahren. Möglicherweise werden irgendwann russische Archive geöffnet und wir wissen mehr. Es ist tragisch, dass keiner der westlichen Politiker damals interessiert daran war, die wahre Ursache dieser Katastrophe zu ergründen. Für alle war es bequemer zu sagen, schuld waren die Wetterbedingungen und die Fehler des Piloten.

Zdzislaw Krasnodebski gilt als einer der profiliertesten konservativen Intellektuellen in Polen und ist Autor zahlreicher Bücher. Der 64-Jährige lehrt als Soziologe in Bremen, vertritt seit 2014 die nationalkonservative Regierungspartei PiS im EU-Parlament und ist seit langem Berater von PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski.