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Aus der Hölle ins Feriencamp

Von Ferry Batzoglou, Hannah Greber und Thomas Seifert

Politik

Ein syrischer Bürgermeister und ein Sozialarbeiter zeigen im Camp "LM Village" wie Flüchtlingshilfe funktionieren kann.


Myrsini/Peloponnes. "Hey George, George! Hello George! Hello George!" Fröhlich ruft das kleine Mädchen mit dem pechschwarzen Haar seinen Vornamen, als sie auf ihrem Fahrrad an ihm vorbeifährt.

Das kleine Mädchen lächelt ihn an. Georgios Angelopoulos (45), schlank, sportlich, braungebrannt, kurzes Haar, frisch rasiert, lächelt zurück. Ohne stehen zu bleiben.

Sein Vorname wird auch an diesem Tag unzählige Male zu hören sein. Meist als "George", wenn er im Camp unterwegs ist. Und das ist er oft. Meist im Original auf Griechisch, wenn er in seinem winzigen, spartanisch eingerichteten Büro sitzt. Und da ist er schon sehr, sehr früh. Täglich.

Heute sass er schon um halb fünf im Büro, als alle Camp-Bewohner noch friedlich schliefen. "Um E-Mails zu schreiben, um allerlei Dinge vorzubereiten. Hier im Camp komme ich nie zur Ruhe."

Ob an Werktagen oder an Sonn- und Feiertagen: Der unermüdliche Hellene hat sich schon sehr lange, genau: seit dem 30. März 2016, als just dieses Camp eröffnet wurde, nicht einen freien Tag genommen. Ununterbrochen ist er seither im Einsatz. Ehrenamtlich. Für Georgios Angelopoulos kein Grund zum Granteln. Im Gegenteil.

Was Georgios Angelopoulos, der Camp-Leiter, hingegen immer wieder, und dies mit sichtlichem Stolz sagt: "Ich bin vom ersten Tag an hier. Das ist mein Baby."

Sein Blick schweift über das Flüchtlingscamp unweit von Myrsini, einem 1-000-Seelen-Dorf ganz im Westen des Peloponnes, knapp 300 Kilometer von der griechischen Hauptstadt Athen entfernt.

Früher urlaubten auf dem weitläufigen, mit Palmen übersäten Areal "LM Village" Familien aus einem Athener Arbeitervorort. 19 schmucke Häuschen links, 19 Häuschen rechts, alle mit Erdgeschoß und erstem Stockwerk, dazu gepflegte Grünflächen, Sportplätze, ein Schwimmbecken. Und neuerdings ein Gewächshaus.

Das Gelände ist direkt an einem langen, feinen Sandstrand gelegen, mit Blick gen Westen. Am Horizont ragen die Inseln Zakynthos, Kefalonia und Ithaka, die mythische Heimat des Odysseus, aus dem Ionischen Meer.

Eine griechische Idylle

Heute tummeln sich in der Anlage, die zwischenzeitlich leer stand, nicht mehr griechische Stadtkinder mit ihren Eltern, um sich im Sommer vom Stress der immerzu pulsierenden Vier-Millionen-Metropole Athen zu erholen.

Heute sind hier Kriegsflüchtlinge untergebracht.

Anfangs waren es mehr als 300 Schutzsuchende, zwischenzeitlich weniger als 100, mittlerweile wieder knapp 200. Tendenz erneut steigend. Überwiegend Syrer leben hier, wenige Iraker, darunter auch Kurden, alles Familien. Mehr als die Hälfte sind Kinder.

Ob Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte oder Hebammen: In dem Flüchtlingscamp in Myrsini sind die Schutzsuchenden bestens versorgt. Es gibt zudem einen Gebetsraum für Muslime, einen Mini-Markt, einen Kindergarten.

"Ich war schockiert!"

Anfang 2016 habe er im Fernsehen die Bilder aus dem fernen Idomeni gesehen, dem winzigen Ort ganz im Norden Griechenlands an der Grenze zu Mazedonien, sagt Nampil-Iosif Morant. Die Balkanroute sei damals gerade geschlossen worden, auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsstroms aus dem Nahen Osten.

Plötzlich konnten die Menschen nicht mehr weiter. Sie hofften aber zunächst darauf, dass die Grenze wieder geöffnet wird. Sie blieben in Idomeni, sie errichteten kurzerhand ein "wildes" Camp, direkt am neuen Grenzzaun, den die Mazedonier errichteten. Sie warteten. Sie skandierten: "Öffnet die Grenzen!" Vergeblich.

"Ich sah die Kinder im Schlamm, viele waren barfuß. Ich sah, wie Greise, Kranke, Verletzte, Frauen, bei Dauerregen, Nebel und Kälte in Sommerzelten hausten. Das zerriss mir mein Herz. Ich war schockiert! Ich sagte mir: ‚Ich muss handeln. Sofort.‘"

Und Nampil-Iosif Morant handelte. Sofort.

Morant ist Syrer, besser: syrischer Abstammung. Er stammt aus der Stadt Homs. Sein Vater war Händler, Nampil-Iosif war das siebente von zehn Kindern. Er ging zuerst nach Paris, dann nach Brüssel, um Medizin zu studieren. Sein Studium schloss Morant Ende der achtziger Jahre im bulgarischen Plovdiv ab, noch vor dem Zerfall des Ostblocks. Dort, in Plovdiv, lernte er seine Frau kennen. Eine Griechin, die ebenfalls Medizin studierte. Und die aus der Region Myrsini stammte.

Das Paar heiratete, es ließ sich der Heimat von Morants Gattin nieder. Morant, Allgemeinarzt, eröffnete seine eigene, seine Frau, eine HNO-Ärztin, ihre Praxis. Morant integrierte sich völlig. Er erhielt die griechische Staatsbürgerschaft, er avancierte zum Lokalpolitiker.

Bei den Kommunalwahlen 2014 wurde Nampil-Iosif Morant zum Bürgermeister gewählt. Damit schrieb er in Hellas, seiner neuen Heimat, Geschichte: Morant ist der erste Migrant, der im modernen Griechenland nach der Revolution im Jahr 1821 gegen die Osmanen ein solches Amt innehat.

Als er Anfang 2016 die schrecklichen Bilder aus Idomeni von Europas Grenze der Schande sah, hatte Nampil-Iosif Morant prompt einen Plan: Die leere Ferienanlage in Myrsini nutzen. Diesmal für die Kriegsflüchtlinge.

Im Eiltempo nahm er Kontakt zu den Athener Behörden auf, er überzeugte in Bürgerversammlungen die lokale Bevölkerung. Kein leichtes Unterfangen.

Ende März vorigen Jahres war es so weit: Die ersten Busse kamen im neuen Camp an. Morant und Bürger aus der Region empfingen persönlich die Flüchtlinge.

"Als ich die vielen Kinder aus den Bussen aussteigen sah, war ich gerührt. Aber dieses Mitgefühl empfanden auch die anderen Bürger. Wir waren uns alle sicher: ‚Es ist richtig und wichtig, diesen Menschen zu helfen.‘"

Pufferzone Hellas

Griechenland war besonders betroffen, denn Hellas ist zur Pufferzone für Schutzsuchende geworden. Mehr als 60.000 Flüchtlinge und Migranten, die aus der Türkei zunächst auf die griechischen Inseln in der Ost-Ägäis übersetzten, sind gegenwärtig in Griechenland gestrandet. Rund 15.000 müssen auf den Inseln ausharren, bis ihr Asylantrag entschieden ist. Die übrigen Neuankömmlinge dürfen auf dem Festland sein. Der Grund: Der am 20. März 2016 in Kraft getretene EU-Türkei-Flüchtlings-Deal.

Ahmed Bilal (30), seine Frau Dania, ebenfalls 30, wohnen mit ihren Kindern Hamsa (6) und Juri (4) im Flüchtlingscamp in Myrsini. Ihr Häuschen hat die Nummer 117. Das Häuschen der Familie Bilal hat die vielleicht schönste Lage im ganzen Camp, ganz am Ende der vorderen Häuserzeile gelegen, mit freiem Blick gen Westen auf das Meer.

Ahmed Bilal serviert seinen Gästen Mokka. Der Mokka schmeckt köstlich. Getrunken wird im Freien, an einem braunen Holztisch. Er ist direkt auf dem Rasen vor seinem Häuschen mit der Nummer 117 aufgestellt.

Die Sonne strahlt vom tiefblauen Winterhimmel. Es ist ungewöhnlich warm. Windstill. Kleine Hunde balgen sich spielerisch auf dem Rasen. Das Smartphone spielt arabischen Pop.

Die Ruhe wird jäh von einem halben Dutzend Kampfflugzeuge unterbrochen. Ahmed Bilal zuckt zusammen. Bereits seit acht Monaten wohnt er mit seiner Familie hier im Camp. Unweit befindet sich eine Luftwaffenbasis der griechischen Streitkräfte. Obgleich hier kein Krieg herrscht: An das Donnern der Militärjets kann sich Ahmed Bilal aber immer noch nicht gewöhnen.

Kein Wunder. Ahmed Bilal, schmächtig, leicht melancholischer Blick, dessen sanfte Stimme beim Erzählen einen melodischen Klang annimmt, floh mit seiner Familie aus Darayya, einem südwestlichen Vorort von Damaskus.

Ahmeds Flucht aus der Hölle

Darayya war lange eine Hochburg der syrischen Rebellen. Syriens Staatsführer Assad ließ Darayya so lange bombardieren, bis sie in Schutt und Asche lag. Assads Kampfflugzeuge stiegen dabei vom Militärflughafen Mezze auf, nur einen Steinwurf von Darayya entfernt.

Assads Armee habe dabei auch chemische Waffen zum Einsatz gebracht, beteuert Ahmed Bilal. Im August 2012 fand ein Massaker in Darayya statt. "Unser Verbrechen war, dass wir für Freiheit und Demokratie in Syrien demonstriert haben." Ahmed Bilals Augen funkeln, als er das sagt.

Ahmed Bilal hatte ursprünglich neun Geschwister. Im Bürgerkrieg verlor er fünf. Auch sein Vater starb. Hirnschlag. Weil er die fürchterlichen Leiden der Familie nicht habe ertragen können, wie Ahmed Bilal sagt. Ihm blieb keine andere Wahl: "Ich musste weg. Mich und meine Familie retten."

Der Fluchtweg der Familie Bilal war die klassische Route, die schon so viele Kriegsflüchtlinge aus Syrien und anderswo eingeschlagen haben. Zuerst schlugen sich Ahmed und Co. bis in die Türkei durch, dann fuhren sie mit dem Boot nach Chios.

Zwei Monate seien sie im dortigen, völlig überbelegten Hotspot geblieben. Die Zustände im Insel-Hotspot auf Chios in der Ost-Ägäis: katastrophal.

Dania Bilal erinnert sich: "Es war für uns sehr schwer, auf der Insel Chios zu leben. Wir hatten jede Nacht Angst, hinaus zu gehen, manchmal sogar am Tag. Ständig passierte etwas Schlimmes. Und in der Nacht hatten unsere Kinder Angst vor dem Lärm draußen. Sie wurden auf der Insel sogar krank."

Keine Chance auf einen Job

Nun sind sie im Camp in Myrsini, am anderen Ende von Hellas, auf dem Festland, im äußersten Westen Griechenlands. Hier fand Ahmed Bilal mit seiner Familie ein ganz anderes Griechenland.

Im Vergleich zum Horror-Insellager in Chios, von der Apokalypse pur in Darayya ganz zu schweigen, ist das Festlandlager in Myrsini für Flüchtlinge beinahe: Ferien von der Hölle.

Wie geht es weiter, Ahmed? Möchtest Du hier bleiben?

Ahmed legt den Finger in die Wunde. "Ich liebe Griechenland. Die Griechen kümmern sich so sehr um uns. Sie sind so herzlich. Griechenland blutet aber aus. Die jungen Griechen wandern aus. Wegen der Krise. Ich bin traurig darüber, dass es den Griechen so schlecht geht."

Er habe sich schon einmal in Athen umgeschaut, ob er mit seiner Familie dort leben könne. Doch zu Füßen der Akropolis sei im Jahr acht der desaströsen Hellaskrise alles schlimm: keine Jobs, kein Geld, keine Zukunft. Und Besserung ist nicht in Sicht.

Aber auch in Myrsini, einer eher strukturschwachen, stark agrarisch geprägten Region, mit seinen nicht endenden Olivenhainen, hat Ahmed schlechte Chancen auf einen Job.

Wer Sakis Pantazis besucht, der weiß auch warum.

Pantazis, Mitte sechzig, ein freundlicher Mann mit Glatze, erklärt in einem Rundgang in der Fabrikhalle von "Pantazis Fruits", wie er seine Firma fit für den Wettbewerb gemacht hat.

"Pantazis Fruits" verpackt Obst, Früchte und Gemüse aus der Region. Die Ware wird ins Ausland exportiert. Im November verpackt "Pantazis Fruits" Orangen und Mandarinen, im Februar Erdbeeren, im April Erdäpfel, im Mai Melonen, im Oktober Kiwis.

Sakis Pantazis muss laut sprechen. Sonst ist er im Lärm der unentwegt laufenden Fließbänder kaum zu hören. Sein Erfolgsgeheimnis bläut er dem Besucher jedenfalls mit gesteigertem Pathos ein: "Maximale Automatisierung!"

Und das geht so: Festangestellt seien bei "Pantazis Fruits" lediglich 25 Personen. Aufgestockt werde das Personal nur mit Saisonarbeitern. Bei Bedarf, versteht sich.

Die Arbeiter schuften am Fließband. Doch höchstens 110 Personen seien so für "Pantazis Fruits" tätig. Im Hochbetrieb. "Maximale Automatisierung" eben.

Und die Frau dort mit dem Kopftuch, Herr Pantazis? Die dort, die am Fließband Orangen sortiert? Ist sie aus dem Flüchtlingscamp in Myrsini? Sakis Pantazis lacht: "Oxi. Oxi (Nein, nein)." Das ist sie nicht. Das ist eine Tunesierin. Sie lebt schon 25 Jahre hier."

Die Kinder sind jetzt glücklich

"Mir gefällt es nicht, ein Flüchtling zu sein", hebt Ahmed unverhohlen hervor."Ich hatte einen guten Job in Darayya. Ich war Industriekoch. Ich habe Hühnersuppen hergestellt. Bei Nestle. Ein guter Arbeitgeber. Ich hatte ein Haus, ein Auto, ein gutes Gehalt, ferner Mieteinnahmen von Geschäften."

Bis der Bürgerkrieg sein Leben zerstörte.

In Myrsini sei er zwar sicher, aber: "Hier ist es wie im Urlaub. Ich habe nichts zu tun." Immerhin: Ahmeds Sohn, der kleine Hamsa, hat etwas zu tun. Der Bub geht in die nahe gelegene griechische Volksschule. Um halb acht in der Früh wird er wie die anderen Kinder im schulpflichtigen Alter im Flüchtlingscamp mit Bussen abgeholt.

Um Schlag Viertel nach acht läutet die Schulklingel. Hamsa sitzt ganz normal in der griechischen Schulklasse, am Pult ganz vorne.

Leiter der Volksschule ist Andreas Karatzas. Karatzas (52), gepflegtes Griechisch, eloquent, ist schon viel herumgekommen. Karatzas war Koordinator der griechischen Abteilung der renommierten Europa-Schule in Brüssel. Später fungierte er als Koordinator für alle griechischen Schulen in Nordafrika und dem Nahen Osten. Sein Sitz: Kairo. Mittlerweile ist Karatzas in seine Heimatregion zurückgekehrt. Für den kleinen Hamsa Bilal ist Schulleiter Karatzas der ultimative Glücksfall. Denn Karatzas kann fließend Arabisch.

Und nicht nur das. Im Jahr 2009 publizierte Karatzas ein griechisch-arabisches Lexikon. Ein richtiger Wälzer. Jahrelang stand er in der Bibliothek der Volksschule. Doch kaum einer interessierte sich für das opulente Werk.

Das ist nun anders. Karatzas: "Die Flüchtlingskinder lernen hier in der Volksschule, in unserer Bibliothek, neben dem normalen Unterricht separat und systematisch Griechisch." Ihre größte Hilfe: ausgerechnet Karatzas’ Lexikon.

Dania, Hamsas Mutter, die in Syrien im Kindergarten unterrichtete, ist durchaus dankbar: "Unsere Kinder vergessen allmählich unsere Vergangenheit. All das Blut, all die schrecklichen Horrorbilder. Hier können sie jetzt zur Schule gehen, ein besseres Leben haben. Sie dürfen endlich Kinder sein."

In Syrien habe sie ihre Kinder hingegen nie glücklich gesehen. "Hier lachen sie so viel. Sie sind so glücklich. Wir sind froh über die Hilfe, die unsere Kinder und wir selbst hier erfahren haben. Das ist ein Zeugnis von großer Menschlichkeit."

Ein weiterer, so wohltuend ruhiger Tag im Flüchtlingscamp Myrsini neigt sich dem Ende entgegen. Hand in Hand gehen Ahmed, Dania und ihre beiden Kinder Hamsa und Juri die paar Schritte von ihrem Häuschen mit der Nummer 117 bis an den feinen Sandstrand.

Ihr Blick schweift über das Meer, nach Westen. Dort, wo die Sonne gerade untergeht.

Sie ist schon blutrot, als Ahmed mit leiser Stimme sagt: "Du, Dania, wir sind nur Nummern. Das waren wir im Bürgerkrieg in Syrien. Das sind wir in Europa." Dann umarmt er seine Frau Dania, den kleinen Hamsa und Juri. Bis das Meer die Sonne verschlingt.

Link zur Projektvorschau:<br/><br/>www.jungeroemer.net/escape_velocity