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Rechte Brüche

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Polens nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist in Umfragen so stark wie noch nie.


Danzig/Warschau. Es gab eine Zeit, da kämpfte Ryszard Grabowski an vorderster Front mit. Damals, als sich in der Danziger Lenin-Werft der Widerstand gegen die Staatsmacht formierte. Es war die Zeit der gewerkschaftlichen Solidarnosc-Bewegung, die das Ende des Kommunismus in Osteuropa und die Wende von 1989 einleitete.

Aber auch heute, als fünffacher Großvater mit 62 Jahren, ist Grabowski wieder Teil einer Wende. Er ist ein überzeugter Wähler der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die Polen seit 2015 mit absoluter Mehrheit regiert und bei Unterstützern die Hoffnung auf den "guten Wandel" nährt. Als eine rechtskonservative Revolution und eine Gefahr für den Rechtsstaat sehen es andere.

Grabowski, ein großer, kräftiger Mann mit einem Dauerlachen im Gesicht, ist kein Hinterwäldler. Als die Danziger Werften nach 1989 ins Strudeln kamen, werkte er für internationale Schiffsbauer in aller Welt. Bahrain, China, Russland oder Deutschland. "Aber im Ausland bist du doch nur ein Mensch zweiter Klasse", winkt er ab. Heute baut er keine Schiffe mehr, sondern fährt Taxi in Danzig. Wenn er am Stadtrand am Haus des ehemaligen Solidarnosc-Anführers Lech Walesa vorbeifährt, das von hohen Mauern und Stacheldraht umschlossen ist, dann sagt er spöttisch: "So sieht also die Demokratie aus, die er uns damals versprochen hat!"

In Umfragen erlebt PiS derzeit einen Höhenflug: Die Partei würde auf bis zu 50 Prozent der Stimmen kommen. Bei ihrem Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl 2015 waren es noch 37,5 Prozent. Es gibt die These, dass sich Rechtspopulisten, einmal an der Macht, schnell wieder selbst entzaubern - in Polen lässt sich derzeit das Gegenteil studieren.

Linke an Wahlhürde gescheitert

Dass das so ist, liegt aber nicht nur an Bürgern wie Grabowski, die sich - wie viele Menschen in anderen Ländern auch - nach einem starken Nationalstaat sehnen. Nach einem "Polen erster Klasse", wie der Mann es selber nennt. Wer das PiS-Phänomen verstehen will, muss vielmehr auch mit jenen sprechen, die sich am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums befinden.

Julia Zimmermann, blauer Kapuzenpulli, Hornbrille und Jeans, sitzt in einem Gassenlokal in der Warschauer Innenstadt. Im Nebenraum hält ein Kollege gerade einen Philosophie-Workshop vor jungen Zuhörern, die sich auf bunten Sitzsäcken drapiert haben, umgeben von Flipcharts, Flatscreens und Ikea-Möbeln.

2015 wurde die Partei Razem (Gemeinsam) in Warschau gegründet. Bei den Wahlen verpasste sie mit 3,6 Prozent zwar den Einzug in das Parlament, aber sie wird seither durch staatliche Parteienfinanzierung unterstützt. Eine "neue Linke" möchte sie sein, ähnlich wie die Bewegung "Podemos" in Spanien, von der sie auch die Parteifarbe lila übernommen hat. Dass die Gruppierung basisdemokratisch organisiert ist - der Vorstand, dem auch Zimmermann angehört, besteht aus elf Personen -, ist nur einer der vielen Gegensätze zum PiS-Stil des starken Mannes und Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. So ist auch die Liste der Kritikpunkte am PiS-Kurs lang: Sie reicht von der Justizreform über die Abtreibungsgesetze bis hin zur Flüchtlingspolitik. Auf der Homepage "Zero Tolerancji" ("Null Toleranz") listen Razem-Aktivisten auf, wer in Polen Rechtsextreme unterstützt - auch von Seiten der PiS-Partei.

Erfolg mit Sozialpolitik

Aber irgendwann lässt Zimmermann Sätze fallen wie: "Einige der Reformen der Regierung unterstützen wir." Oder: "Es ist gut, dass PiS das endlich angeht." Konkret spricht Zimmermann vom eingeführten Programm "Rodzina 500", vom Kindergeld von monatlich rund 500 Zloty (rund 120 Euro) ab dem zweiten Kind. Zudem hat PiS eine Kommission gegründet, die umstrittene Reprivatisierungen von Warschauer Wohnungen unter die Lupe nehmen soll. Durch die Causa waren seit der Wende allein in Warschau rund 17.000 Mieter gezwungen, ihre billigen Sozialwohnungen aufzugeben. Dass linke Politik in Polen als reaktionär verschrieen ist, hat es PiS ermöglicht, soziale Themen zu besetzen, glaubt Zimmermann. "Seit mehr als 20 Jahren hat uns die liberale Propaganda eingebläut, dass die Verlierer des neuen Systems einfach nicht hart genug gearbeitet haben."

Den PiS-Erfolg einzig als späten Fluch der Schocktherapie zu beschreiben, greift aber zu kurz. Es ist der 11. November, eine rote, glühende Menschenmasse zieht in der Warschauer Abenddämmerung durch die Innenstadt. Es ist der polnische Unabhängigkeitstag, das rechtsextreme "Nationalradikale Lager" hat unter dem Motto "Wir wollen Gott" zu einem Marsch aufgerufen. Die Menschen haben sich rot-weiße Schals umwickelt, schwenken Polen-Fahnen und zünden bengalische Feuer und Böller. Sie wettern auch gegen Flüchtlinge.

Barbara und Marek, beide Anfang 50, haben sich auch in die Menge gemischt. Sie sind für den Marsch aus dem knapp 600 Kilometer entfernten Stettin angereist. "Ich verstehe nicht, was am Nationalismus schlecht sein soll. Wir sind Katholiken, das ist doch unsere Kultur, und das wollen wir auch zeigen", sagt die blonde, schlanke Ärztin. Junge, vermummte Männer marschieren an ihr vorbei, aber auch Familien mit kleinen Kindern.

Die PiS, die den Marsch nicht organisiert hat, hat sich nur halbherzig davon distanziert und antisemitische und fremdenfeindliche Aussagen als eine Tat weniger Provokateure abgetan. Die internationale Empörung über den "Faschisten-Marsch", wie ihn die britische Zeitung "The Independent" bezeichnete, spielt ihr aber wieder in die Hände. Die Wagenburgmentalität der PiS - Polen als vom Westen missverstandene Patrioten - wird teils noch untermauert. Denn dass die Kaczynski-Partei vor allem in der EU-Flüchtlingspolitik, gegen die sich der Marsch gerichtet hat, einen harten Kurs fährt, kommt bei vielen Polen gut an. Laut einer Umfrage lehnen 70 Prozent der Menschen die Aufnahme von Flüchtlingen aus muslimischen Ländern ab.

Identität und Ungleichheit

"Recht und Gerechtigkeit erkennt, dass die europäische Migrationskrise für viele Polen eine Frage von großer politischer und symbolischer Bedeutung ist - im Gegensatz zum sozialliberalen, kosmopolitischen Konsensus der westeuropäischen Eliten", schreibt der Politologe Aleks Szczerbiak von der University of Sussex. So habe es PiS verstanden, linke Sozialpolitik mit rechtem Nationalstolz zu verweben, legt Remi Adekoya im US-amerikanischen Journal "Foreign Policy" dar: "Die polnische Regierungspartei hat die zwei großen Themen der aktuellen europäischen Politik besetzt - Identität und Ungleichheit - und damit im Grunde Konservatismus und Nationalismus mit Sozialpolitik verbunden."

Und die Opposition? "Viele Polen finden, dass PiS zumindest Anerkennung dafür verdient, Probleme und Defizite anzupacken, die unter den Vorgänger-Regierungen verabsäumt wurden", meint Szczerbiak. Dass die Opposition, wie etwa die liberalere Bürgerplattform (PO), versucht, den Druck auf die Regierung von Brüssel und von der Straße aus zu erhöhen, komme dabei nicht gut an.

Kritik an Eliten

Derweil lassen PiS und die regierungsfreundlichen Medien keine Gelegenheit aus, die alten Eliten als einen korrupten Klub zu diskreditieren und Ressentiments gegen ihre Kritiker zu pflegen. So würden die PiS-Reformen nur deswegen so hart kritisiert, weil "die Bankenlobbys und die ausländischen Investoren ihre Interessen verteidigen", die sich "in den vergangenen acht Jahren auf Kosten von Polen bereichert haben", wischte Beata Szydlo, die von ihrem Posten als Premier vor kurzem von Finanzminister Mateusz Morawiecki abgelöst wurde, die Kritik an der Justizreform vom Tisch: "Es war eine goldene Ära für sie, aber diese Ära ist jetzt vorbei."

Zurück in Danzig. Ein diffuses Gefühl, dass jetzt "wir" an der Macht sind, treibt auch den Taxifahrer Grabowski um. Ohne jedoch genau sagen zu können, wer denn nun "wir" und wer "die anderen" sind.