Zum Hauptinhalt springen

"Interveniert hat bei mir noch nie jemand"

Von Martyna Czarnowska

Politik
Im "hochpolitischen Umfeld der Rechtsauslegung" bewegt sich der EuGH mit Präsident Lenaerts.
© European Law Institute

EuGH-Präsident über den unbeschränkt gültigen Gleichheitsgrundsatz und die zwingende Umsetzung von Urteilen.


"Wiener Zeitung":Die Aufnahme von Flüchtlingen, Kürzung von Sozialleistungen, Datenschutz - die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) bergen mehr Brisanz denn je, weil sie inmitten heftiger politischer Debatten fallen. Wie oft läutet Ihr Telefon, und es ist ein Politiker dran?

Koen Lenaerts: Da kann ich offen sein: Nie. Und ich befasse mich immerhin seit fast 30 Jahren mit Europarecht. Obwohl wir uns am EuGH tatsächlich in einem hochpolitischen Umfeld der Rechtsauslegung bewegen, das die aktuellen Entwicklungen der Europäischen Union widerspiegelt, habe ich nie derartige Anrufe bekommen oder Versuche der Beeinflussung erlebt. Selbstverständlich urteilen wir Richter aber nicht in einem luftleeren Raum, wenn wir eine unklare Rechtsnorm auslegen müssen, die die Politik bewusst offen gelassen hat.

Das heißt, Sie müssen die Arbeit der Politiker zu Ende bringen?

Es besteht in der Tat manchmal eine Wechselwirkung zwischen Politik und Gerichtsbarkeit. Einiges wird bewusst unklar gelassen, weil im Gesetzgebungsprozess keine politische Einigung auf einen Begriff oder ein Konzept, keine Festlegung auf eine detaillierte Vorschrift möglich war. Dann müssen wir Klarheit schaffen, wenn das im Rahmen eines Verfahrens verlangt wird. Wir legen das Recht aus. Davon ausgehend kann die Politik weiter tätig werden. Wenn wir zum Beispiel festhalten, dass die Freizügigkeit nicht erwerbstätiger Unionsbürger gewissen Beschränkungen unterliegt, kann die Politik unsere Rechtsprechung kodifizieren - in einer Neufassung des Gesetzes.

Und wenn umgekehrt ein Staat einen Spruch des Gerichtshofs nicht akzeptieren will?

Das darf nicht toleriert werden. Die Urteile müssen umgesetzt werden. Es ist Aufgabe der Europäischen Kommission, aber auch der anderen Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass jeder Mitgliedstaat das Unionsrecht einhält.

Manche Länder scheinen damit aber Schwierigkeiten zu haben. In Ungarn wird gegen Urteile gewettert; gegen Polen hat die Kommission ein Grundrechteverfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union eingeleitet.

Das kann ich eher als Professor für vergleichendes Verfassungsrecht denn als EuGH-Präsident kommentieren. Nicht, weil ich mich aus der Verantwortung ziehen möchte, sondern weil das aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung resultiert, das auch für den Gerichtshof gilt. Der schützt die Grundrechte, wenn diese von den Mitgliedstaaten möglicherweise gefährdet werden - aber ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts. Dahinter steckt eine klare Einschränkung des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechtecharta. Denn die Mitgliedstaaten wollten nicht, dass der EuGH die nationalen Verfassungsgerichte ersetzt. Wenn etwas also außerhalb des materiellen Unionsrechts liegt, dann handelt der betreffende Mitgliedstaat im Bereich seiner eigenen Kompetenzen. Das kann das Vertrags- oder Haftungsrecht betreffen, aber auch die Organisation der Gerichtsbarkeit.

Wenn also der Justizminister gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist oder der Einfluss des Parlaments bei der Bestellung von Richtern erhöht wird, wie es derzeit in Polen der Fall ist, verstößt das nicht grundsätzlich gegen rechtsstaatliche Prinzipien. Wo liegt dann hier das Problem?

Wir befinden uns dabei in einem geteilten Bereich. Es gibt Aspekte, die sehr klar an die Vorgaben des Unionsrechts gebunden sind, und es gibt Teilbereiche, in denen keine Harmonisierung vorliegt. In der zweiten Konstellation ist im Fall einer systemischen Verletzung des EU-Vertrags ein politischer Mechanismus der Sanktion möglich. Auch wenn viele Regelungsmaterien in die nationale Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen: Es gibt einen normativen Grundkonsens, der nicht unterschritten werden darf. Die Mitgliedstaaten sind nämlich politisch aufeinander angewiesen, und sie wollen in der EU nicht mit Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, die nicht die selben Grundwerte verkörpern. Daher muss der Schutz europäischer Grundwerte wie der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte auch politisch abgesichert sein. Das betrifft dann nicht in erster Linie die Gerichtsbarkeit, sondern die Mitgliedstaaten, die einander politisch an ihre Verpflichtungen erinnern, damit sich kein Mitgliedstaat von diesem Grundkonsens allzu weit entfernt.

Das ist genau das, was die polnische Regierung kritisiert: die politische Motivation, die hinter der EU-Überprüfung steckt...

Das Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union ist deswegen ein politisches Verfahren, weil es zunächst einmal außerhalb der Kompetenz der Gerichtsbarkeit liegt. Das bedeutet allerdings nicht, dass es ein willkürliches politisches Verfahren ist.

...so wie es in Warschau interpretiert wird...

Ich meine damit aber etwas anderes. Dass nämlich Artikel 7 in den Händen der politischen EU-Institutionen liegt. Denn es ist ja nicht so, dass zum Beispiel die EU-Kommission Klage beim EuGH erhoben hat. Vielmehr sind die Mitgliedstaaten an der Reihe: Sie entscheiden über die weitere Vorgehensweise.

Wie funktioniert das Zusammenspiel der Mitgliedstaaten mit dem EuGH?

Die Gerichtsbarkeit der Europäischen Union fußt auf der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten. Im Rahmen des sogenannten Vorabentscheidungsverfahrens legen die nationalen Gerichte dem EuGH Fragen über die Auslegung des Unionsrechts vor, die sich in einem nationalen Rechtsstreit stellen. Das setzt aber voraus, dass die Richter unabhängig von der Exekutive und der Legislative des eigenen Staates vorgehen können.

Wenn wir von Konflikten zwischen nationalem und Unionsrecht sprechen: Die österreichische Regierung möchte die Familienbeihilfe für EU-Bürger an das Kostenniveau des Mitgliedstaats anpassen, in dem die Kinder leben. Eine ähnliche Regelung wollte Großbritannien vor dem EU-Austrittsreferendum aushandeln. Wäre das mit Unionsrecht vereinbar?

Die Einheitlichkeit des Unionsrechts muss auch dabei beachtet werden. Die Garantie der Gleichheit der Mitgliedstaaten und der Bürger muss gewahrt bleiben, deswegen kann es keine Auslegung für einzelne Mitgliedstaaten geben. Ob die britische Regelung rechtmäßig gewesen wäre oder nicht, ist nie überprüft worden, weil die Vereinbarung - nach dem Brexit-Referendum - hinfällig wurde. Ein Gericht macht immer nur Aussagen in Bezug auf einen konkreten Fall.

Es hat Urteile zur Beschränkung von Sozialleistungen gegeben, die ein Staat demnach vornehmen kann.

In einem Fall ging es um eine rumänische Bürgerin, die in eine deutsche Stadt zog, dort aber nicht arbeitete. Die Personenfreizügigkeit ist jedoch bei Nichterwerbstätigen an Bedingungen geknüpft: daran, Geldmittel zu haben für den Lebensunterhalt und für eine vollständige Krankenversicherung. Da die Frau keine ausreichenden Mittel hatte, beantragte sie Sozialleistungen. Wir haben dann festgestellt, dass eine finanzielle Überbrückung möglich wäre, die Behörden aber nicht verpflichtet sind, ständig jene Mittel zur Verfügung zu stellen, die jemand selbst aufbringen müsste.

Wenn also jemand arbeitet, können die Leistungen nicht einfach gekürzt werden?

Für Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten, die erwerbstätig sind, gilt der Gleichheitsgrundsatz unbeschränkt. Denn solch ein Arbeitnehmer trägt ja zur Wirtschaft und zum Sozialsystem des Gastmitgliedstaats bei. Dann sollte er auch die gleichen Rechte genießen wie ein Bürger des jeweiligen Mitgliedstaats. Da muss man ebenfalls den politischen Mut haben, das zu sagen. Es gibt eine Auslegung des EuGH von 1986 zu den Vorschriften über Familienbeihilfe, wonach sich das Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaats nicht bereichern darf durch den Umstand, dass die Kinder des Arbeitnehmers in einem anderen Mitgliedstaat mit niedrigeren Kosten wohnen.

Damals ging es um einen Italiener, der in Frankreich arbeitete und dessen Kinder in Italien wohnten, wo Lebenskosten und Familienbeihilfe niedriger waren. Doch der Arbeitnehmer hat das Recht auf Beihilfe in Frankreich erworben und zahlte dort die gleichen Beiträge für Steuern und Sozialversicherung wie ein französischer Kollege. Hätte er weniger Geld bekommen, wäre zur Trennung von der Familie auch noch ein finanzieller Verlust hinzugekommen. Deswegen haben die Richter damals geurteilt, dass die Leistung nicht nach dem Aufenthaltsort der Kinder berechnet werden darf.

Wird das Thema der Sozialleistungen bei den Brexit-Verhandlungen und danach nochmals aufflammen?

Der Brexit wird Anlass zu vielen Rechtsfragen geben. Doch der genaue Umriss dieser Fragen lässt sich noch nicht abschätzen. Alles hängt davon ab, ob es ein bilaterales Abkommen zwischen Großbritannien und den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten geben und wie dessen Inhalt aussehen wird. Darüber jetzt zu spekulieren, hat wenig Sinn. Doch sobald das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union ausgetreten ist, ist es jedenfalls ein Drittstaat - auch, wenn wir alle noch etwas Mühe haben, das zu verinnerlichen.

Koen Lenaerts begann seine Karriere am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg 1984 als Rechtsreferent.
Der in der belgischen Stadt Morsel geborene Rechtswissenschafter unterrichtet auch als Professor für Europarecht an der Katholischen Universität Leuven. Seit Oktober 2015 ist er Präsident des EuGH.