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"Der Aufschwung ist nur eine Blase"

Von Gerhard Lechner

Politik
"Wir leben in einer Phase des Vertrauensverlustes, der bei manchen sehr weit geht. Viele sehen in den vorhandenen Institutionen nur noch eine heuchlerische Fassade", sagt Wirtschaftsphilosoph Rahim Taghizadegan.
© Michael Hetzmannseder

Der Philosoph Rahim Taghizadegan über die ökonomischen Gründe für den Vertrauensverlust in unser System.


"Wiener Zeitung": Gegenwärtig wird in Europa eine starke Polarisierung wahrgenommen, die sich etwa an der Migrationskrise entzündet. Was sind die Gründe für diese Polarisierung, was ist mit unserer Gesellschaft los?

Rahim Taghizadegan: Wir leben in einer Phase des Vertrauensverlustes, der bei manchen sehr weit geht. Viele sehen in den vorhandenen Institutionen nur noch eine heuchlerische Fassade, nicht funktionierende Strukturen, die nicht mehr im Sinne der Bevölkerungsmehrheit agieren. Dieser Vertrauensverlust hat aber handfeste wirtschaftliche Gründe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wirtschaftsaufschwung zunächst von realen Erfordernissen getragen. Das Land war zerstört, man musste es wieder aufbauen. Bald aber kam eine überdehnte Geldpolitik hinzu. Das konnte nicht langfristig gutgehen. Irgendwann stagnierte die Wirtschaftsentwicklung. Nun braucht man, solange man in einer Phase der materiellen Fülle lebt, keine Polarisierung zu befürchten. Man kann jeden Unmut wegzahlen. Man kann sich Zustimmung kaufen. Sobald die Kassen knapper werden, brechen die ungelösten Probleme allerdings auf, und die Zuversicht schwindet.

Derzeit befindet sich Europa freilich in einem Aufschwung. Ist der dauerhaft oder doch nur eine neue Blase, die dann wieder platzt?

Ich würde sagen, eine Blase. Schauen Sie sich die Bilanzen der Europäischen Zentralbank (EZB) an, die Ausweitung der Geldmenge. Dann sehen Sie zwar, dass sich neuerdings die Wirtschaft wieder belebt. Aber diese Belebung ist im Großen und Ganzen nur davon getragen, dass eine extrem expansive Geldpolitik, wie man sie historisch überhaupt noch nie gesehen hat, irgendwann in die Wirtschaft hineinfließt - vor allem in die Vermögens- und Anlagewerte und in die Immobilien. Jahrelang hatten wir ja das Problem, dass trotz expansiver Geldpolitik nichts in der Realwirtschaft angekommen ist.

Warum kommt das Geld jetzt wieder an?

Früher oder später muss es ankommen. Wenn das Geld aber in erster Linie in die Vermögenswerte fließt, steigert das allerdings die Ungleichheit in der Gesellschaft. Es sieht also nicht gerade danach aus, dass das Ergebnis dieses Aufschwungs ein Wohlstand für alle sein wird. Ein großer Teil dieses Wachstums ist geldmengen- und nicht produktivitätsgetrieben und daher nicht sehr nachhaltig.

Was würde das konkret bedeuten? Steht ein Crash bevor?

Eine Korrektur in irgendeiner Form muss es geben. Diese Korrektur kann aber vielgestaltig sein. Wenn sich nichts regt wirtschaftlich, weil es möglich ist, dieses Scheinwachstum weiter zu treiben, regt sich bei den Menschen etwas. Die fangen an, aufzubegehren. Viele haben nicht mehr den Eindruck, dass der in der Mitte der Gesellschaft Lebende, sich der Mehrheit Zurechnende - und die meisten Leute ordnen sich dieser Gruppe zu - der Nutznießer der heutigen Entwicklung ist. Sie spüren, dass sie im Hamsterrad laufen. Vor allem bei der Arbeitseinstellung der "Millennials" sage ich eine Korrektur voraus.

Also jener jungen Leute, die etwa um 2000 oder etwas früher geboren wurden.

Genau. Da wird man noch seine Schocks erleben. Die reagieren, und das zum Teil total berechtigt und verständlich.

Wie denn?

Ihre Produktivität geht dramatisch hinunter, wenn sie keinen Sinnbezug finden.

Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie da Erfahrungen in Ihrem Institut gesammelt?

Ich habe hauptsächlich mit Millennials zu tun. Die sind aufgewachsen in einer Zeit, wo sie die ganze Zeit hören: Wir leben in einer Wirtschaftskrise. Der Generation der Eltern geht’s eigentlich noch ganz gut, aber man selbst lebt mit der Erwartung, dass die Situation jedenfalls nicht besser wird, dass man sich manche Dinge wie ein Haus nicht wird leisten können, und dass es vielleicht auch keine Pension geben wird. Daraus resultiert eine ironische, distanzierte und sehr nüchterne Geisteshaltung, eine stille Rebellion, die eher wie Mitläufertum aussieht. So ist der Berufswunsch Nummer eins bei Studenten, Beamter zu werden.

Wirklich?

Ja. Das klingt natürlich fürchterlich, ist aber eine Reaktion auf die heutige Entwicklung, eine Auflehnung, die sagt: Lasst uns in Ruhe. Wir wollen nicht viel, aber etwas Sicheres, einen Posten mit einem sicheren Gehalt, es muss nicht viel sein. Ansonsten lasst uns in Ruhe, weil Eure Erzählungen und Versprechungen hinten und vorne nicht mit dem zusammenpassen, was wir so wahrnehmen. Dass man mit genügend Fleiß und Leistungswillen seinen Weg machen kann, wird nicht mehr geglaubt.

Man kann also sagen, der "Austrian Dream" erodiert bei den jungen Leuten.

Ja. Diese Generation wird wohl den Wohlstand der Elterngeneration aufbrauchen. Einen Wohlstand übrigens, der nicht verstanden und nicht verdient ist.

Warum nicht verstanden und nicht verdient?

Die Referenzgeneration für die Millennials sind die sogenannten Babyboomer, also die etablierten, älteren Leute. Sie sind die großen Nutznießer der Nachkriegsentwicklung. Diese Generation hat nicht so recht verstanden, wo der plötzliche Wohlstand herkam. In Österreich war man nach dem Krieg überrascht von der starken Wirtschaftsentwicklung. Man hat schnell für selbstverständlich gehalten, dass da ein dramatischer nomineller Wohlstandszuwachs passiert, ohne dass der durch Produktivität voll gedeckt wäre. Daraus entstand eine Anspruchsmentalität, ein Denken, das es als selbstverständlich empfindet, dass es jedes Jahr ein paar Prozent mehr gibt. Irgendwann kippt dieses Vorauskonsumieren und Nachkonsumieren aber natürlich. Viele Junge haben heute den Eindruck, dass an den Erzählungen ihrer Eltern vieles nicht stimmt. Sie sehen, dass die, denen es gut geht, das im Grunde nicht verdient haben, dass sie eben einfach Glück gehabt haben, dass es da diesen Job gab.

Wenn unser System, wie Sie sagen, verzerrt ist - wie würde dann ein neues, nicht verzerrtes System aussehen? Was wäre ein Heilungsweg aus der Lage, in der wir uns jetzt befinden?

Solange es Menschen auf Erden gibt, wird es kein perfektes System geben, das man bauen könnte. Man kann allerdings gewisse Dynamiken verstehen und erkennen. Dann sieht man: Uff, da gibt es schon einen ziemlichen Rückstau, da wird die Liste der unbezahlten Rechnungen länger und länger. Es bleibt dann wohl nur, sich zu wappnen für die nächste Korrektur von Lebenslügen, die sich natürlich immer unangenehm anfühlt.

Steht in der EU eine solche Korrektur an?

Ich würde niemandem zutrauen, den Euro zu managen. Die Größenordnung dieses Projekts übersteigt menschliches Maß. Ich würde sagen, hinter einem solchen Vorhaben steckt ein Machbarkeitsdenken, das sich zu viel zutraut. Dass man Geld künstlich kreieren und durch menschlich gesteuerte Parameter optimieren kann, halte ich für mindestens sehr gewagt. Ich würde mir einen dezentraleren Zugang wünschen, der auch der europäischen Geschichte viel besser entspräche. Man sollte Wahlmöglichkeiten zulassen, schon allein deshalb, weil es ja kein Gehirn gibt, das von vornherein alles besser weiß. Die Menschen reagieren ja bereits: Sie suchen nach Anlagemöglichkeiten abseits des Sparkontos. Diese Antwort ist nicht perfekt, aber sie zeigt, dass viele denken: Oh je, der Euro ist nichts, was ich mir in den Socken stopfen kann, und dann gibt es nennenswerte Ersparnisse. Das ist eine ungewisse Sache. Wir wissen auch, es kann vorkommen in Europa, dass eines Tages aus dem Bankomaten nichts mehr rauskommt. Das muss man sich klarmachen. Diese Dinge sind Folge dieses Vabanquespiels von Menschen, die der Hybris unterliegen, dass sie ein solches System steuern können. Ich halte es nicht für steuerbar und würde es mir auch nicht anmaßen, zu versuchen, es zu steuern. Die aufkommenden Kryptowährungen sind ein Versuch, eine Alternative zu finden.

Aber zeigt die rasante Kursrallye der Kryptowährung Bitcoin nicht auch, dass es sich da wiederum um eine Blase handelt?

Ja, die Bitcoin-Kurve sieht aus wie eine Blase. Aber wenn man sich zugleich die EZB-Bilanzentwicklung ansieht, sieht man eine ähnliche Kurve. Der Euro und der Dollar können auch als Blasen betrachtet werden, und das führt zum Abwandern in andere Anlagemöglichkeiten. Wenn ich irgendwann das Vertrauen verloren habe, dass die liquideste Form Cash ist, suche ich mir andere liquide Anlageformen. Und Kryptowährungen sind sehr liquide, weil sie sich international verschieben lassen.

Rahim Taghizadegan ist als Ökonom und Wirtschaftsphilosoph einer der letzten heimischen Vertreter der Wiener Schule der Ökonomik. Er leitet das Scholarium in Wien, eine Bildungs- und Forschungseinrichtung, und unterrichtet an Universitäten im gesamten deutschsprachigen Raum. Zu seinen dutzenden Veröffentlichungen zählen "Österreichische Schule für Anleger", "Wirtschaft wirklich verstehen" oder "Linke & Rechte".