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Rote Furcht vor dem Genossen

Von Alexander Dworzak

Politik

Jungsozialist Kevin Kühnert schickt sich an, die große Koalition in Deutschland zu verhindern.


Berlin/Wien. Aufmüpfigkeit zählt zur Grundvoraussetzung eines Vorsitzenden der deutschen Jungsozialisten. Das wussten schon Ex-Kanzler Gerhard Schröder und die heutige Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles, beide einst an der Spitze der Jusos. In der gesamten SPD und erst recht in der Öffentlichkeit gehört zu werden, ist jedoch viel schwieriger. Als Kevin Kühnert im November 2017 zum Chef der Jusos gewählt wurde, nahm kaum jemand davon Notiz. Heute ist er Aushängeschild derer, die eine große Koalition der SPD mit der konservativen Union unter allen Umständen vermeiden möchten.

Lange dabei, lange unauffällig

Zwar haben auch führende Sozialdemokraten Bedenken gegen die "GroKo" angemeldet, etwa die beiden Ministerpräsidentinnen Malu Dreyer und Manuela Schwesig. Doch niemand war so klar in seiner Kritik wie Kühnert: "Die Erneuerung der SPD wird außerhalb einer großen Koalition sein - oder sie wird nicht sein", donnerte er im Dezember beim Parteitag. Er sei "nicht in die SPD eingetreten, um sie immer wieder gegen die gleiche Wand rennen zu sehen", sagte er über das schwarz-rote Bündnis, das seit 2013 im Amt ist. Auch für das nunmehrige Sondierungspapier von SPD, CDU und CSU fand er klare Worte, als sich in der Basis Unmut über die Ergebnisse breitmachte. "Wir sollten uns nicht selber belügen", schmetterte Kühnert Hoffnungen auf Nachbesserungen bei Spitzensteuersatz und Krankenversicherung sowie in der Flüchtlingspolitik ab.

Der 28-Jährige trifft mit seiner Geradlinigkeit einen Nerv. Schon früh entschied sich der Student der Politikwissenschaft für die SPD. Nach einem Praktikum in der Partei trat er mit 16 Jahren ein. Damals, 2005, verlor Gerhard Schröder aufgrund seiner Arbeitsmarkt- und Sozialreformen die Bundestagswahl. "Ich würde mich größer machen, als ich bin, wenn ich behaupten würde, als Agenda-Kritiker in die SPD eingetreten zu sein", sagte Kühnert der "Berliner Morgenpost". Er stammt aus der Hauptstadt, sein Vater ist Finanzbeamter, seine Mutter arbeitet im Jobcenter. Das Auffälligste am Beamtenkind ist sein "Unterschicht"-Vorname. Denn Kühnerts fußballbegeisterte Mutter benannte ihren Sohn nach dem früheren HSV-Stürmer und Vereinsidol Kevin Keegan. Geräuschlos erfolgte der politische Aufstieg von Kevin Kühnert: 2012 bis 2015 war er Vorsitzender der Berliner Jusos, danach deren Vizechef im Bund. Zudem arbeitet er für einen Abgeordneten des Berliner Landesparlaments.

Kühnert weiß also, wie Politik in der Praxis abläuft und Mehrheiten besorgt werden. Beim Parteitag der Jusos im vergangenen November holte er sich Rückendeckung für seine bedingungslose Ablehnung der großen Koalition: 100 Prozent Zustimmung. Jene Geschlossenheit ist viel wert, denn in der Mutterpartei liegen die Meinungen weit auseinander zwischen "GroKo"-Befürwortern, Anhängern von Neuwahlen und Stimmen, die eine CDU/CSU-geführte Minderheitsregierung durch die SPD tolerieren wollen.

Fraktionschefin übt Kritik

Kühnert befindet sich derzeit auf "NoGroKo-Tour" durch die Landesverbände. Berlin, Sachsen-Anhalt und Thüringen sprechen sich mehrheitlich gegen die Verhandlungen aus. Hamburg, Hessen, Brandenburg und das Saarland sind dafür. In mehreren Landesverbänden erfolgt erst am Freitag die Abstimmung, andere votieren vorab gar nicht - darunter der größte Verband, Nordrhein-Westfalen, der 144 Delegierte stellt. Rund 600 Personen - 80 bis 100 werden den Jusos zugerechnet - entscheiden am Sonntag beim Parteitag in Bonn, ob die SPD in Koalitionsverhandlungen mit der Union treten soll. Niemand wagt das Ergebnis vorauszusagen.

Der "Zwergenaufstand", wie der Chef der CSU-Bundestagsabgeordneten, Alexander Dobrindt, raunte, könnte sich zum Ende von Schwarz-Rot entwickeln. In der SPD wird die Gefahr ernstgenommen. Andrea Nahles warf Kühnert vor, er hätte bei einer Parteiveranstaltung Falschinformationen gestreut. Allerdings sagte die Fraktionschefin nicht, welche Aussagen Kühnerts sie gemeint hat. Die ehemaligen Parteivorsitzenden Franz Müntefering, Kurt Beck und Hans-Jochen Vogel appellieren in einem offenen Brief für Koalitionsverhandlungen. Diese werden auch von einer Mehrheit der Parteilinken in der Bundestagsfraktion unterstützt.

Sollten die Koalitionsgespräche dennoch abgelehnt werden, habe Nahles "keinen Plan B". Parteichef Martin Schulz wäre aber sicher in Bedrängnis. Noch im April bezeichnete ihn der damals unbekannte Kühnert als "Gott- (und Europakanzler)".