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Europäisches Unbehagen

Von Alexander Dworzak

Politik

Bis Sonntag wollen Union und SPD ihre Koalitionsverhandlungen abschließen. Das Europa-Kapitel sorgt bei Konservativen für späte Bedenken.


Berlin/Wien. Murren aus den eigenen Reihen, das kannte man bei den Sondierungsgesprächen und Verhandlungen für eine große Koalition in Deutschland bisher nur von den Sozialdemokraten. Mit Verve diskutierten die Genossen, wo ihre Schmerzgrenzen in Flüchtlings-, Arbeitsmarkt und Gesundheitspolitik liegen. Die Funktionäre der CDU schlummerten derweil scheinbar. Ihnen dämmert nun aber die Gefahr, welche das Europa-Kapitel für konservative Kernwerte birgt. Denn wirtschaftspolitisch droht eine Wende. Und auch in europäischen Staatskanzleien wird diese Entwicklung besorgt verfolgt.

Die obersten Verhandler speisen die Öffentlichkeit derweil mit Plattitüden ab. Der Koalitionsvertrag werde "den Willen zu einem neuen Aufbruch in Europa signalisieren", sagte SPD-Chef Martin Schulz diese Woche in einem Statement, das mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem CSU-Chef Horst Seehofer akkordiert war. Auch seien sie sich "einig, dass Europa und der Kampf für ein starkes, ein erneuertes, ein gestärktes Europa eines der Hauptanliegen einer zukünftigen deutschen Regierung sein muss".

Mehr zahlen, wenig fordern

Diese Aussagen lassen die Türe für inhaltlichen Spielraum - aber auch Interpretationsunterschiede - sperrangelweit offen. Ein Blick auf das Europakapitel im Sondierungspapier lohnt daher. Eindeutig ist dort zumindest die Ansage: "Wir sind auch zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit." Der mit Abstand größte Nettobeitragsleister Deutschland - 12,9 Milliarden Euro oder 0,4 Prozent der Wirtschaftsleistung waren es 2017 - hilft nach dem Austritt des Nettozahlers Großbritannien aus. Die Sondierer stellen dabei keine Forderungen, wie die deutschen Mehrausgaben konkret verwendet werden sollen. Mit dieser Ansage erhöht Schwarz-Rot jedoch den Druck auf die acht weiteren Nettozahler, darunter Österreich, ebenfalls mehr zu geben. Die schwarz-blaue Koalition sträubt sich dagegen und drängt stattdessen auf Einsparungen.

Ebenfalls mit Sorge dürfte im Wiener Bundeskanzleramt die Passage gelesen worden sein, wonach Union und SPD nicht nur "spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz" begrüßen, sondern auch einen "künftigen Investivhaushalt für die Eurozone" andenken. Konkrete Zahlen bleiben Union und SPD schuldig. Von "begrenztem Umfang" sprach Merkel beim Besuch von Kanzler Kurz in Berlin im Jänner. Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron schweben allerdings für das Eurozonen-Budget mehrere Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Währungsraums vor. Bereits ein Prozent macht 107 Milliarden Euro aus.

Angst vor der Transferunion

Schon spukt das Schreckgespenst der immerwährenden Transferunion in den Regierungskanzleien nördlich des Brenners. Die Niederlande etwa sprechen sich explizit gegen dieses Instrument aus. Merkel beruhigte beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Das Risiko dürfe nicht vergemeinschaftet werden, die Haftung nicht bei allen liegen, obwohl jeder Einzelne seine Risiken managen müsse.

Nahrung bekamen diese Sorgen aufgrund eines Kommentars von prominenter Stelle. Der ehemalige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Otmar Issing, kritisierte das Sondierungspapier in ungewohnter Deutlichkeit als "Abschied von der Vorstellung einer auf Stabilität gerichteten europäischen Gemeinschaft". Issing ging in seinem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" noch einen Schritt weiter. Mit dem Sondierungspapier würden "Versprechen gebrochen, die man den Bürgern in Deutschland vor der Einführung des Euros gegeben hat". Das saß, auch in der CDU. Dort warnt der Wirtschaftsrat, unter "proeuropäisch" nicht noch mehr Umverteilung in Krisenländer zu sehen.

Groß sind die Bedenken auch ob eines allfälligen Europäischen Währungsfonds (EWF). CDUler fürchten um das Erbe des früheren Finanzministers Wolfgang Schäuble. Dieser ventilierte die Idee, der EWF solle aus dem jetzigen Euro-Krisenfonds ESM weiterentwickelt werden. Bankensysteme notleidender Länder oder ganze Staaten könnten auf diese Weise gerettet werden.

Schäuble zufolge dürften die Kommission und das EU-Parlament keinen Einfluss nehmen. Ihm erschienen beide Institutionen als zu unsicher bei der Verteidigung der Unions-Stabilitätskriterien. Daher ist der ESM als zwischenstaatliche Institution mit Kontrollrechten der nationalen Parlamente bei der Vergabe von Milliardenkrediten konstruiert.

Wer kontrolliert den EWF?

Im Sondierungspapier ist aber lediglich von einem "parlamentarisch kontrollierten" Europäischen Währungsfonds die Rede. Die Worte "Deutscher Bundestag" oder "nationale Parlamente" finden sich nicht. Noch dazu solle der EWF laut der schwarz-roten Einigung "im Unionsrecht verankert" statt zwischenstaatlich sein. Das wäre ganz nach dem Geschmack von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Sein früherer Kompagnon Schulz leitete die Europa-Verhandlungsgruppe auf SPD-Seite, während sich bei CDU und CSU die Parteichefs Merkel und Seehofer vertreten ließen.

Weg in die Einlagensicherung

Schäubles Erbe scheint auch bei der Einlagensicherung in Gefahr. Laut EU-Richtlinie müssen alle Banken in der Union 0,8 Prozent ihrer gedeckten Spareinlagen bis 2024 über Bankabgaben in nationale Sicherungsfonds einzahlen. Die Kommission möchte einen europäischen Fonds. Schäuble verlangte, erst müssten die Risiken in den Bankbilanzen gesenkt werden. Sein geschäftsführender Nachfolger Peter Altmaier erklärte, die EU-Finanzminister sollen bis Sommer Kriterien vorlegen.

Altmaiers Vorstoß kam vergangene Woche, also nach den Sondierungen. Im dortigen Papier wird das brisante Thema Einlagensicherung nicht erwähnt. Weitere Bereiche zur Union, etwa einer Verkleinerung der Kommission oder zu EU-weiten Listen bei der Europawahl 2019, sparten Schwarz und Rot ganz aus.