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Nahles braucht den Westen

Von Alexander Dworzak

Politik

Ein Viertel der SPD-Mitglieder, die über die große Koalition abstimmen können, stammt aus Nordrhein-Westfalen.


Berlin/Wien. Die Antwort auf eine Frage entscheidet, ob Deutschland weiter von Schwarz-Rot regiert wird: "Soll die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) den mit der Christlich-Demokratischen Union (CDU) und der Christlich-Sozialen Union (CSU) ausgehandelten Koalitionsvertrag vom Februar 2018 abschließen? - Ja oder Nein", fragt die SPD ihre knapp 464.000 Mitglieder. Seit Dienstag dürfen die Genossen die Kuverts retournieren, und zwar bis 2. März. Zwei Tage später wird das Ergebnis verkündet. Eineinhalb Millionen Euro lässt sich die SPD dieses Verfahren kosten. Sie rechnet mit hohem Rücklauf; in der Parteizentrale, dem Berliner Willy-Brandt-Haus, stehen "Hochleistungsschlitzmaschinen" bereit, die 20.000 Briefe pro Stunde öffnen können.

Für einen reibungslosen Ablauf des Votums ist also gesorgt, Unsicherheit besteht hingegen beim Ergebnis. Nach dem Chaos in den vergangenen Wochen, die zum Rücktritt von Parteichef Martin Schulz führten, traut sich auch die Parteispitze keine Vorhersage. Die sonst gerne kantige Andrea Nahles zählte am Dienstag eher nüchtern die Erfolge in den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU auf, "für Familien, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Schüler und Studierende, in der Rente und in der Pflege". Tatsächlich erzielte die SPD Teilerfolge, etwa die Reduzierung grundlos befristeter Dienstverhältnisse. Allerdings erhob die Partei diese nicht wahlentscheidende Frage erst zur Koalitionsbedingung und erreichte letztlich nicht einmal die völlige Abschaffung solcher Arbeitsverträge.

Anders als nach den Koalitionsverhandlungen 2013 gibt es nun kein sozialdemokratisches Großanliegen, das Nahles ihrer Basis verkaufen kann. Schon damals waren die Mitglieder alles andere als begeistert von der Aussicht auf Schwarz-Rot. Der damalige Parteichef Sigmar Gabriel trotzte daher der Union den Mindestlohn ab. Und fast drei Viertel der Mitglieder stimmten daraufhin für den Koalitionsvertrag.

Verhandlungserfolge fadisieren

Nahles musste beim Politischen Aschermittwoch im westfälischen Schwerte feststellen, dass kaum Stimmung aufkam, als sie die SPD-Verhandlungserfolge aufzählte. Vielleicht wird es andernorts besser, bis 25. Februar wirbt Nahles bei sieben Regionalkonferenzen des Parteivorstands für die Koalition. Heftig akklamiert wurde hingegen in Schwerte Nahles’ Bemerkung, Kanzlerin Angela Merkel sei "angezählt". Der CDU stünde das dunkle Tal noch bevor, durch das die SPD habe schreiten müssen, sagte auch Norbert Römer, Chef der sozialdemokratischen Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, bei der Veranstaltung. Und in Richtung Nahles’: "Wir vertrauen dir."

Den Genossen in Nordrhein-Westfalen kommt entscheidende Bedeutung zu, sie stellen ein Viertel der Mitglieder. Der mit Abstand größte SPD-Landesverband demontierte den dort beheimateten Martin Schulz, nachdem der eine Kehrtwende vollzogen hatte und plötzlich in ein von Merkel geführtes Kabinett einziehen wollte. Gegen die "GroKo" in Berlin wehren sich die Jungsozialisten unter Kevin Kühnert am lautesten und öffentlichkeitswirksamsten, aber auch viele Genossen in Nordrhein-Westfalen haben Vorbehalte. Kurz vor Beginn des Mitgliederentscheids ging eine kritische Erklärung online, die auch von Mitgliedern des Landesvorstands und der Fraktion unterzeichnet wurde. Andererseits hat Nahles neben Nordrhein-Westfalens SPD-Chef Michael Groschek mit dem Fraktionsvorsitzenden Norbert Römer nun einen wichtigen Verbündeten hinzugewonnen. "Wenn wir die Koalition ausschlagen, wird noch mehr Vertrauen verloren gehen", fürchtet Römer.

Hinter der AfD - und auch nicht

Geht es nach den Umfragen, ist der Vertrauensverlust längst eingetreten. Nur mehr 15,5 Prozent der Wählerstimmen weist das Insa-Institut in einer am Montag veröffentlichten Erhebung für die "Bild"-Zeitung für die SPD aus. Damit liegen die Sozialdemokraten sogar einen halben Prozentpunkt hinter der AfD - erstmals bei bundesweiten Umfragen. Allerdings sahen zwei andere Meinungsforschungsinstitute, Emnid und Forsa, noch am Wochenende die SPD fünf beziehungsweise drei Prozentpunkte vor der AfD. Doch selbst im für sie günstigsten Umfragefall erreicht die SPD nur noch 19 Prozent. Vom Anspruch einer Volkspartei, geschweige denn einer Kanzlerpartei, ist sie weit entfernt.

Sollten die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag tatsächlich platzen lassen, bleiben Angela Merkel drei Möglichkeiten: Entweder sucht sie nochmals das Gespräch mit CSU, FDP und Grünen, um eine "Jamaika"-Koalition zu bilden. Das ist aber genauso unwahrscheinlich wie eine Minderheitsregierung, gegen die sich die Kanzlerin stets gesträubt hat. Dritte Variante sind Neuwahlen. Daran hat Merkel wenig Interesse, kann einem Urnengang aber gelassener als Nahles entgegenblicken.