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Ein vergessener Ort in einem vergessenen Krieg

Von Philip Malzahn (Text) und Johanna Maria Fritz (Fotos)

Politik

Der vergessene Krieg Europas - ein Besuch in einem Dorf, bewohnt von Menschen mit griechischer Abstammung, die nun im bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und pro-russischen Separatisten gefangen sind.


Tschermalyk. "Tschermalyk ist gerade ganz friedlich", sagt Anna Nikolajewna, "aber wartet einfach, bis die Sonne untergeht." Dann eilt die Dorfratsvorsitzende mit dem goldenen Mantel und der prunkvollen Uschanka weiter hektisch durch den kargen Betonbau der kleinen Schule. Draußen ist es eiskalt und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist an diesem Dienstag zu Besuch, um an die wenigen Kinder, die noch geblieben sind, Winterjacken zu verteilen.

Anna Nikolajewna ist dafür verantwortlich, die Sache über die Bühne zu bringen, und koordiniert nervös Lehrer, Eltern und Kinder. Im überhitzten Versammlungsraum sollen sie sich hinsetzen und auf die Almosen der internationalen Staatengemeinschaft warten. Winterjacken in drei Farben: Rosa für die Mädchen, Blau für die Jungs und Grau für diejenigen, die keine Jacke in Rosa oder Blau bekommen haben. Als die UNHCR-Vertreter endlich da sind, geht alles ganz schnell: Die Namen werden aufgerufen, die Jacken verteilt. Dann gibt es ein einstudiertes Danklied an die Vereinten Nationen und schon sind die Helfer wieder auf dem Weg. Ja, sie helfen, sagt Frau Nikolajewna, sie haben viele Häuser in unserem Dorf repariert - vielen Menschen ihr Zuhause zurückgegeben." Frau Nikolajewna seufzt: "Aber der Krieg ist hier nicht vorbei. Schaut mal, die UN-Leute müssen um 16 Uhr diese Gegend verlassen haben, so lautet ihr Sicherheitsprotokoll." Warum? "Wenn es dunkel wird, fängt es wieder an."

Es ist selten, dass das kleine Dorf Besuch empfängt - der heutige Trubel in Tschermalyks Schule ist einer Aufmerksamkeit geschuldet, die ihm nur in sporadischen Abständen von außen geschenkt wird. Das Dorf liegt am Fluss Kalmius, direkt an der Kontaktlinie zwischen der Ukraine und der jungen Volksrepublik Donezk, die pro-russische Separatisten im April 2014 ausgerufen haben. Das gesamte Gebiet entlang der Front bezeichnet die ukrainische Regierung als ATO (Zone antiterroristischer Operationen). Es ist eine militärische Sperrzone, die offiziell nur Einheimischen und denen mit Sondergenehmigung, wie Journalisten und Hilfsorganisationen, zugänglich ist. De facto aber ist es das Zuhause tausender Menschen, die unter den Kriegszuständen des "Waffenstillstands", der durch die beiden Minsker Abkommen in der Region implementiert werden sollte, eine Normalität im Widerspruch anstreben.

Ein ganz besonderes Dorf

Anna Nikolajewna führt uns durch ihre Heimat. Beim Spazieren in Tschermalyk bekommt man den Eindruck, man habe sich am Ende der Welt verlaufen. Diesen teilen auch die meisten Bewohner: "Wir sind ein vergessener Ort in einem vergessenen Krieg." Vieles ist aufgerissen und leer: die Straßen, die Häuser, die Atmosphäre. Streunende Hunde verfolgen die kleinen Grüppchen von Soldaten, die sich in den Häusern einquartiert haben, die die geflüchteten Bewohner zurückließen. Das harte Grau des ukrainischen Winters hat sich mit Dorf und Menschen verbunden und lässt die Spuren der Verwüstung nur allzu gegenwärtig wirken.

"Wir sind ein ganz besonderes Dorf, wisst ihr?", erzählt Nikolajewna. "Wir sind alle Griechen." Nach dieser besonderen Verkündigung muss sie erst mal eine brutale Hustenattacke überwinden. Der ganze Körper bebt, während er versucht, die Krankheit aus der Lunge zu hieven. "Die Winter hier sind so hart, es ist quasi das ganze Dorf durchgehend krank." In der Ukraine leben etwa 90.000 ethnische Griechen, die meisten in der Gegend um Mariupol - einer Großstadt 40 Kilometer von Tschermalyk. Oft leben sie in kleinen Dörfern eingemeindet, "im Prinzip wie große Familien", sagt Anna Nikolajewna. "Jeder kennt jeden. Es gibt auch Ukrainer - aber sie können unserem griechischen Couleur nicht entfliehen", da muss sie lachen. Die Menschen hier feiern griechische Feste. Dann streichen sie zusammen ihre Häuser blau-weiß und erinnern an ihre Herkunft durch Folklore: Theaterstücke, Volkslieder und Tänze. Außerdem sprechen sie Rumeika, einen eigenen griechischen Dialekt, den man nur noch hier findet. "Jedes Dorf feiert am Jahrestag seiner Gründung. Tschermalyk immer am zweiten Sonntag im August. "Wir haben hier auch eine eigene Tradition - Boxkämpfe. Bei unserem Fest treffen sich die Männer und treten gegeneinander im Ring an. Es ist brutal, aber sehr amüsant!" Die ersten Griechen besiedelten ab dem sechsten Jahrhundert die Region. Seitdem fluktuierte ihre Zahl stark. Den stärksten Zuwachs bekam die Bevölkerung aufgrund des "griechischen Plans" von Katharina der Großen, Ende des 18. Jahrhunderts, und während des griechischen Bürgerkriegs 1941-46, als viele überzeugte Kommunisten in die Sowjetunion flüchteten.

Anna Nikolajewna bringt uns zum Festsaal von Tschermalyk. Das Wellblechdach ist verbogen - Mörsereinschlag. Das Innenleben ist von Rauchschwaden erobert worden, der Geruch von Fett kriecht aus der Küche und über die Wände, die dem berüchtigten Ostblock-Chic wohl alle Ehre machen: grüne Tapete und Plastikgardinen. Gerade haben im Gebäude gegenüber die Rentner ihre Pension abholen dürfen. Die bringt wieder einmal im Monat die Post, nachdem 2014-2015 alle Zahlungen für ein gesamtes Jahr ausgesetzt worden waren. Im Festsaal haben die beiden korpulenten und liebenswürdigen Küchendamen namens Mascha und Anuschka alle Hände voll zu tun. Der Festsaal ist heute zweigeteilt: in einem Raum gibt es einen 58. Geburtstag zu feiern, im anderen einen 82-Jährigen zu betrauern. Das Tischdekor ist deckungsgleich: Plastikbecher und Schnapsglas, Karaffe und Limonade. Nur, dass die Geburtstagmeute laut schreit und tanzt, die Trauergäste hingegen niedergeschlagen und verhalten vor der Tür stehen und still rauchen. Dann kracht aus der Geburtstagsmeute die wuchtige Maisa. "Ihr da! Stehenbleiben!" Sie möchte mit jedem anstoßen, den sie trifft. Ihre Tante ist das Geburtstagskind und darauf zu trinken ist eine Frage des Anstands. Mit ihren 23 Jahren lebt nicht sie nicht mehr in Tschermalyk - wie die meisten jungen Leute. Maisa studiert jetzt Medizin in Berdjansk und kommt nur zu besonderen Anlässen. Sie vermisst die gute alte Zeit: "Die Jugend hier war sehr stark! Wir sind jedes Wochenende zusammen zum Feiern nach Mariupol. Hier gab es Partys, mein Gott das hättet ihr sehen müssen!" Heute durchqueren die ATO nachts nur Leute, die keine andere Wahl haben. Es gibt alle paar Kilometer Checkpoints, die von allen "Blockposten" genannt werden. Militärkontrollen und Feuergefechte können einem die Feierlaune definitiv verderben. Etwa 30 Prozent der Einwohner sind geflohen, darunter gute 80 Prozent aller Menschen unter 30. Die Demografie spricht eine eindeutige Sprache: Tschermalyk ist heute ein Dorf der Alten und Zurückgebliebenen.

Kollektive Emotionen

Trotz Krankheit und müden Knochen schleppt Frau Nikolajewna jeden Besucher von auswärts nach dem Mittagessen weiter unerbittlich von Haus zu Haus. Jede Tür, die sich im tristen Tschermalyk öffnet, lässt einen Einblick in diese abgeschottete Welt zu. Um die Ecke gebogen, in einer schlammigen Seitenstraße wartet Dima am verrosteten Zaun seines bescheidenen Vorgartens. "Hellas!", grüßt er Anna Nikolajewna, "wie gehts?" Der alte und zitternde Dima führt langsam in die Stube. Das Haus riecht, wie das ganze Dorf zu dieser Jahreszeit, nach Holzbriketts. Dima und seine Frau sind bitterarm. In einer Ecke liegen verstaubte Säcke alter Hilfsgüterlieferungen, das hellblaue UNHCR-Logo ist noch zu erkennen. Überall stehen Behälter mit eingelegtem Gemüse. Die meisten Familien ernähren sich fast ausschließlich von dem, was sie auf ihrem Grundstück anpflanzen und von Spenden.

Frau Nikolajewa und Dima beginnen zu erzählen. Von sich und ihren griechischen Vorfahren, die unter Katharina der Großen in die Ukraine kamen. Vom Verhältnis zur ukrainischen Bevölkerung, das über die Jahre stark variierte, sich aber schlussendlich dann doch bei "normal" einpendelte. Von ihrer Tochter, die 2007 in einer Sommernacht, nach dem Abendessen und augenscheinlich gesund, ins Bett ging und nie wieder aufwachte. Dann erzählen sie vom Krieg. Sie betonen gleich am Anfang, dass es ihnen sehr wichtig ist, dass wir die Kriegsgeschichten keineswegs wie einen Schwank aus der Vergangenheit aufnehmen. "Wir Griechen sind eine sehr eingeschworene Gemeinschaft", sagt Dima. "Wir erleben den Krieg immer gemeinsam. Er ist eine fortwährende, kollektive Erfahrung, und dieser Krieg ist nicht vorbei."

Die kollektive Erfahrung Tschermalyks, die Dima anspricht, hat es in sich: Am 6. August 2015 ist ein vom Militär eingerichtetes Munitionslager am Eingang des Dorfs explodiert, als mehrere Mörsergranaten der pro-russischen Separatisten in die Lagerhalle einschlugen. Ganze zwei Tage und Nächte brannte das Feuer. Schrapnell schoss durchs ganze Dorf. Der einzige landwirtschaftliche Betrieb, der sich direkt neben dem Lager befindet, hat bei der Explosion an die tausend Schweine verloren und 70 Prozent seiner Infrastruktur. Mehrere dutzend Häuser wurden schwer beschädigt, fünf Menschen haben ihr Leben gelassen und sechs wurden schwer verletzt. Auch Dimas Haus wurde von einer Mörsergranate getroffen - während er und seine schwerkranke Frau schliefen.

Kommt Nacht, kommt Krieg

Die starke Gemeinschaft bleibt jedoch bestehen. "Wir sitzen eben alle in einem Boot. Als Griechen aber auch als Menschen, die einfach das Pech hatten, mitten zwischen die Fronten eines Krieges zu geraten", sagt Anna Nikolajewna, "kommt, ich zeig euch, was ich meine." Rund hundert Meter geht es den schlammigen Pfad hinunter zu Nicolai. Er ist Vorstandsmitglied im griechischen Verein und an diesem Abend hat er zu einer kleinen Feier bei sich Zuhause geladen. "Kommt schnell rein, es wird langsam dunkel", sagt Nicolai, der auch Musiker ist und sofort stolz seine Akkordeonsammlung präsentiert.

Der Holztisch ist bereits gedeckt, Nicolai wartet auf die Gäste, die nach und nach eintrudeln. Jeder hat eine Flasche selbstgebrannten Schnaps mit, die auch sofort geöffnet wird. In geselliger Runde wird immer wieder angestoßen: "Auf den Frieden und die Liebe!", brüllt die Runde.

Im Haus von Nicolai hängen viele griechische Flaggen und Kühlschrankmagnete mit Palmenmotiv aus Thessaloniki. Nostalgische Erinnerung? "Auf jeden Fall!", meint Nicolai, "ich war zwei Mal dort, war ’ne super Zeit!" Warum er dann nicht dorthin auswandert? "Pah, irgendwie bin ich auch Ukrainer. Man muss wissen, was es heißt, in dieser Gemeinschaft zu leben."

Denn dieses Dorf hat einen stillen Pakt geschlossen, in dem sich alle gemeinsam gegen die gefährliche Außenwelt verschworen haben. "Wir haben während des Krieges gemeinsam beschlossen, zu bleiben", sagt Nicolais Nachbar, "wir haben entschieden, dass wir hier miteinander stärker sind als woanders." Der Krieg hat die Dorfgemeinschaft noch mehr zusammengeschweißt. Man braucht einander, man hilft einander.

Draußen ist die Sonne gerade hinter dem nebeligen Horizont verschwunden, als ein weiteres mal alle die Gläser heben. Und dann, fast zeitgleich, dringt von draußen ein unüberhörbares Donnern durch die geschlossenen Fenster. Man schaut sich kurz an und wendet sich dann dem Essen zu. Doch es hört nicht auf, alle paar Minuten gibt es irgendwo in der Nacht einen neuen Einschlag. Manchmal sind sie ganz leise, ganz weit entfernt, manchmal so nah, dass die Mauern des Hauses erzittern. Nicolai hat alle seine Fenster mit Klebestreifen verklebt - das soll vor gefährlichen Splittern schützen. Egal wie oft die Dörfler versuchen, im Gespräch von den bedrohlichen Geräuschen abzulenken, mit jedem Einschlag wachsen die Sorgenfalten auf den Stirnen. Irgendwann werden dann doch die Handys gezückt - die noch fehlenden Partygäste angerufen: "Wo bleibt ihr? Ja, bei uns ist alles gut! Seid vorsichtig beim Laufen!" Mit dem Schnaps steigt die Stimmung, Nicolai packt das Akkordeon aus und die Musik wird aufgedreht. Es werden griechische Lieder gesungen - "Stimmen eines weit entfernten Friedens" heißt eines. "Und danach hören wir ein bisschen Deep Purple!", bestimmt Nicolai. Die Einschläge der Mörsergranaten sind nur noch ganz leise wahrzunehmen. "Zum Glück ist es für beide Parteien unvorteilhaft Zivilisten umzubringen. Die brauchen uns als politische Lobby, deshalb treffen sie nur noch selten das Dorf direkt", sagt Anna Nikolajewna an diesem späten Abend heiter. "Ganz nett von ihnen, dass sie den Krieg so pragmatisch betrachten, nicht wahr?", ist Nicolais ironischer Einwand. Seine Fenster sind an diesem Abend ganz geblieben. Die Party endet irgendwann in den späten Abendstunden, das Donnern auch.

Politik und Realität

Es ist Sonntag, um neun Uhr beginnt die Messe in Kirche. Harziger Geruch liegt in der Luft, der in ein goldenes Ornat gehüllte Pope schwingt den Weihrauchkessel. Zwischen dichtem Weihrauch-Nebel und Kerzenlicht lassen sich die Protagonisten der gestrigen Feier entdecken. Die meisten grüßen sich nicht einmal - dafür ist es noch zu früh. Nach der Messe sammeln sie sich vor der Kirche und sprechen über den gestrigen Abend. "Hast du gehört, bei ihnen hat es ganz in der Nähe eingeschlagen, sie haben wirklich Glück gehabt." Kopfschütteln in der Gemeinde, danach geht ein jeder seiner Wege. Wenn die Dorfbewohner die Soldaten fragen, warum noch immer so nah am Dorf geschossen wird, bekommen sie folgende Antwort: "Wenn ihr die Einschläge hört, könnt ihr ganz beruhigt sein. Wenn eine Mörser-Granate direkt auf dem Weg zu euch ist, das hört ihr gar nichts. Ein Volltreffer kündigt sich nicht an. Dann ist es zu spät."

Das Leben in Tschermalyk, im kleinen Dorf an der Front, mit seinen zerstörten Häusern und fliehenden Bewohnern, macht klar: Das Minsker Abkommen, das eigentlich für Frieden - oder zumindest einen Waffenstillstand sorgen sollte - ist eine Illusion. Eine Farce. Oder wie Anna Nikolajewna es formuliert: "Es ist das, was sich manche Politiker erzählen, damit man sich nicht darum kümmern muss." Aber es gibt keinen Waffenstillstand - es wird geschossen. Jede Nacht. Nicht nur ein bisschen, und nicht nur mit Handfeuerwaffen, sondern es wird viel geschossen und mit großkalibrigen Waffen. Die Wucht der Explosionen ist manchmal so gewaltig, dass die Wände der Häuser in Tschermalyk zittern und die kollektive Anspannung steigt. Die Menschen fragen sich: Was wird aus ihnen, ihrem Dorf, ihrer Identität und aus ihrem Leben?

Mitarbeit: Robert Putzbach