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Drei Geschichten aus Russland

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Wie sich Russland in der dritten Amtszeit Präsident Putins verändert hat.


Moskau. Wladimir Putins dritte Amtszeit begann mit einer Träne. Als er bei der Moskauer Siegesfeier zu seiner Wiederwahl als Staatspräsident im Jahr 2012 an das Mikrofon trat, kullerte eine Träne über seine Wange. War es Erleichterung oder gar Rührung? Oder wirklich nur der Wind, wie Putin später sagte? Tatsache ist, dass es jene Zeit war, als gerade eine Protestwelle durch Russland fegte und zehntausende Städter im ganzen Land auf die Straße gingen, um gegen das Regime zu demonstrieren.

Wenn sich Putin am Sonntag in einer Woche wieder im Amt bestätigen lässt, sind jedoch keine Proteste zu erwarten. Umfragen zufolge hat er heute in der Bevölkerung einen Rückhalt von mehr als 70 Prozent. Ein Rekordwert, so hoch wie selten zuvor in der 18-jährigen Ära unter Putin.

Als Putin damals eine Träne vergoss, war auch Oleg Melnikow auf den Barrikaden. Bei den sogenannten "Bolotnaja-Protesten", benannt nach einem zentralen Platz der Demonstrationen in Moskau. Der heute 26-jährige Unternehmer mit dem Bürstenhaarschnitt war dort, um für Bürgerrechte und gegen Wahlfälschungen zu demonstrieren. Doch schnell bekam er die harte Hand des Staates zu spüren. Er wurde kurzzeitig festgenommen, gegen ihn wurde ein einjähriges Ausreiseverbot verhängt. Fotos zeigen einen jungenhaften Mann im Würgegriff der Polizei.

Doch dann kam die Krim. Jene Tage im Frühling 2014, als im Nachbarland Ukraine eine Revolution den pro-russischen Präsidenten aus dem Amt fegte und russische Truppen die ukrainische Halbinsel Krim annektierten. "Ich bin kein Anhänger von Putin", sagt Melnikow heute: "Aber was er dort gemacht hat, war unter den gegebenen Umständen nun einmal notwendig." Als im Mai 2014 in Odessa bei Zusammenstößen mehr als 40 pro-russische Demonstranten im Gewerkschaftshaus verbrannten, zog Melnikow in den Krieg. Er ging als Freiwilliger in den Donbass, um die pro-russischen Separatisten zu unterstützen. Heute sitzt er in einem hippen Kaffeehaus in der Moskauer Innenstadt, raucht eine Wasserpfeife und schwärmt von seinem neuen Bitcoin-Projekt. Zuletzt hat er eine Nichtregierungsorganisation gegen Sklavenhandel gegründet - und bereut nichts. "Unsere Brüder haben damals unsere Hilfe gebraucht", sagt er über die Ukraine.

Im patriotischen Taumel

Melnikow mag ein krasses Beispiel sein, aber die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass haben die Protestbewegung von damals gespalten. Im patriotischen Taumel über den Anschluss der Krim - "Krimnasch!", "Die Krim ist unser!" - und der russischen Propaganda über die mordenden Faschisten in der Ukraine sind die kritischen Töne gegenüber Putin immer leiser geworden. Wenngleich die Ukraine-Politik nicht von allen Russen gutgeheißen wird, hat sie Putin doch dabei geholfen, die Gesellschaft nach der Protestwelle wieder um sich zu sammeln - und seine Zustimmungswerte auf bis zu 86 Prozent zu steigern.

Die Krim als zentrale Handlung der dritten Amtszeit: Vieles deutet darauf hin, dass das auch im Kreml so gesehen wird. So ist es kein Zufall, dass die Präsidentschaftswahlen ausgerechnet am vierten Jahrestag der Krim-Annexion, dem 18. März, abgehalten werden. Eine Zäsur für Russland, die nicht überschätzt werden kann, glaubt auch der Historiker Sergej Medwedew: "Eine Wende, die so ohrenbetäubend, unerwartet und folgenreich war, dass man sie durchaus mit dem Zerfall der Sowjetunion vergleichen kann", schreibt er in seinem Buch "Chronik der dritten Amtszeit". Ein Ereignis, das die russische Gesellschaft zumindest kurzzeitig konsolidiert, sie zugleich aber auch international isoliert hat.

Künstler in Ungnade

Auch für Jelena Gremina war das Jahr 2014 ein Einschnitt. Die 61-Jährige mit dem dunklen Wuschelkopf leitet teatr.doc, eine Kleinbühne in der Moskauer Innenstadt. In ihren dokumentarischen Stücken setzen sich die Theatermacher kritisch mit der Kreml-Politik auseinander. Gerade wird ein Stück über den Geheimdienst FSB vorbereitet, auf dem Spielplan stehen Werke über den Krieg in der Ostukraine, über Homophobie in Russland oder "Berlusputin", eine Burleske, in der Ärzte ein Frankenstein-Geschöpf aus dem italienischen Ex-Premier Silvio Berlusconi und Präsident Putin erschaffen.

In der dritten Amtszeit Putins wurde die Kulturszene von einer "konservativen Wende" erfasst, sagt Gremina. Das bekam auch die Kleinbühne zu spüren: Als Ende 2014 im Theater eine Dokumentation über die Ukraine gezeigt wurde, stürmten Sonderkräfte der Polizei das Theater. Beim Staat ist das Theater seither in Ungnade gefallen. Es erhält keine staatlichen Förderungen mehr und muss immer wieder umziehen, weil die Behörden Druck auf die Vermieter machen. "Sie haben gedacht, sie können uns die Spielstätte wegnehmen, und dann werden wir den Laden dichtmachen", berichtet Gremina. "Da haben sie sich aber getäuscht."

Inzwischen hat sich die Lage wieder etwas beruhigt und teatr.doc hat seit mehr als zwei Jahren wieder eine fixe Spielstätte. Doch bei politisch-brisanten Stücken kommen heute weniger Zuseher als früher. "Die Menschen haben Angst," meint Gremina. "Was ja auch verständlich ist, denn heutzutage kann man sogar schon für einen Tweet eingesperrt werden."

Doch längst nicht alle Russen sind so politisch wie die mutigen Theatermacher. Sich lieber ganz aus der Politik raushalten - das war lange Zeit das Lebensmotto von Alexander Jelisejew. Damit ist der Mittvierziger mit der bulligen Gestalt und dem ansteckenden Lachen bisher auch ganz gut gefahren: Vor zehn Jahren ist er mit seiner Frau aus Samara, einer Stadt nahe der kasachischen Grenze, nach Moskau gezogen. Heute arbeitet er als Anwalt in einem Unternehmen, das Öl verschifft. Das Ehepaar hat sich eine Wohnung mit Blick in einen grünen Innenhof, elf Kilometer Luftlinie vom Kreml entfernt, gekauft. Abends gehen sie gerne in das irische Pub um die Ecke, zwei Mal im Jahr machen sie Städtetrips nach Wien, Amsterdam oder Prag.

Rekordwert an Protesten

Jelisejew war die längste Zeit seines Lebens der Meinung, Opposition sei etwas für Hitzköpfe. In seinem Alter sollte man eher "dem konservativen Lager angehören", wie er sagt. Das änderte sich im vergangenen Jahr, als der Moskauer Bürgermeister bekanntgab, in der Stadt 8000 Häuser abzureißen und 1,6 Millionen Moskauern eine neue Wohnung zu beschaffen. Was eigentlich als Wahlgeschenk vor den Bürgermeisterwahlen gedacht war, sorgte für einen Sturm der Entrüstung. Auch das Haus von Jelisejew sollte abgetragen werden. Mit Nachbarn organisierte er einen Protest und marschierte mit 20.000 anderen Moskauern durch die Innenstadt. Stolz zeigt er heute auf seinem Handy Fotos von den Protesten. Der Widerstand hat Wirkung gezeigt: Zumindest Jelisejews Haus wurde aus den Abrissplänen gestrichen.

So gehört auch diese Geschichte zur dritten Amtszeit Putins: die von den Protesten. Sie richten sich freilich nicht direkt gegen Putin, sondern beziehen sich auf soziale, wirtschaftliche oder lokale Forderungen. Zwischen Januar und September 2017 hat das Center for Economic and Political Reforms (CEPR) russlandweit den Rekordwert von 1100 Protesten gezählt. Das hänge auch mit der Wirtschaftskrise zusammen, nachdem die Ölpreise und der Rubel in den Keller rasselten, glaubt die Politologin Jekaterina Schulmann. Ihre These: Weil der russische Staat sich künftig verstärkt über die Steuern der Bürger finanzieren müsse anstatt über Rohstoffeinnahmen, würden die Bürger auch mehr Bewusstsein für den Staat entwickeln. Und bürgerliche Rechte - wie das Recht auf Protest - stärker einfordern. "Wenn die Leute das Gefühl haben, dass ihnen der Staat nichts mehr schenkt, sondern ihnen etwas wegnimmt, wird sich ein bürgerliches Bewusstsein entwickeln", meint Schulmann.

Das Wort "Politik" spricht Jelisejew zwar immer noch so aus, als würde er auf eine saure Zitrone beißen. Aber Wählen gehört für ihn mittlerweile zur Bürgerpflicht. Bei den Kommunalwahlen im Herbst hat er für die Opposition gestimmt, auch zu den Präsidentschaftswahlen wird er hingehen - zum ersten Mal seit 2000, als er dem damals noch unbekannten und etwas farblosen Ex-Geheimdienstler Wladimir Putin seine Stimme gab. Diesmal wird er den kommunistischen Kandidaten Pawel Grudinin wählen. Nicht, weil er seine Stalinismus-Aussagen gut fände oder kommunistische Ideale verträte. "Das ist meine Proteststimme", sagt Jelisejew. "Wenn ich schon sonst nichts verändern kann, dann werde ich Putin zumindest mit meiner Stimme ein bisschen kitzeln."