Zum Hauptinhalt springen

Ein Titel ohne Wert

Von Alexander Dworzak

Politik

Ob die AfD Oppositionsführerin ist, spielt keine Rolle. Wichtig ist, ob sie den Ton der politischen Debatte verändert.


Berlin/Wien. Es ist eine historische Abstimmung - und doch nur ein Formalakt. Denn dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags am Mittwochvormittag Angela Merkel zur vierten Kanzlerschaft verhelfen, somit zum Gleichstand mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl, steht bereits fest. Schließlich verfügen die Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD über 399 Abgeordnete. Die notwendige Mehrheit liegt bereits bei 355 Stimmen. Wenig bis gar keinen Zuspruch kann sich Merkel hingegen aus den Reihen der AfD erwarten. Sie erreichte bei der Bundestagswahl im September 94 Mandate. Zwei Abgeordnete, darunter die frühere Parteichefin Frauke Petry, sind zwar abgesprungen. Doch mit 92 Abgeordneten und aufgrund der schwarz-roten Koalition ist die AfD gleich bei ihrem Ersteinzug in das Berliner Parlament zur größten Oppositionspartei aufgestiegen.

Dabei wollten die Sozialdemokraten erst dieses Szenario unbedingt verhindern. "Für die SPD wäre es unerträglich, wenn die AfD stärkste Oppositionspartei ist", sagte SPD-Vizevorsitzende Malu Dreyer, auch Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz, am Tag nach der Bundestagswahl. Später führten die Gegner der großen Koalition in der SPD um den Jungsozialisten Kevin Kühnert immer wieder ins Treffen, man müsse verhindern, dass der AfD die Oppositionsführerschaft zukommt.

Weder im Grundgesetz noch in der Geschäftsordnung

Das Wort Oppositionsführerschaft suggeriert Gestaltungsspielraum und zusätzliche Kompetenzen. Tatsächlich diente es primär als linke Drohkulisse, denn die Funktion existiert weder im Grundgesetz noch in der Geschäftsordnung des Bundestags. In der Praxis ergeben sich zwei Vorteile: Die Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland und Alice Weidel dürfen auf Reden von Kanzlerin Merkel und ihren Regierungsmitgliedern als Erste antworten. In der Vergangenheit fiel jedoch in der Berichterstattung lediglich ins Gewicht, was Abgeordnete sagten. Und nicht, wann sie dies taten. Wesentlich wichtiger in der parlamentarischen Praxis ist für die AfD, dass sie drei von 23 ständigen Ausschüssen leitet.

"Die Ausschussvorsitzenden haben eine bedeutende Position: Sie bereiten die Sitzungen vor, berufen sie ein und leiten sie", heißt es auf der Bundestags-Webseite. In der Regel steht je einem Ministerium ein ständiger Ausschuss gegenüber, einzelne Themenbereiche können durch einen eigenen Ausschuss aufgewertet werden. Die stärkste Oppositionskraft erhält traditionell den wichtigen und prestigeträchtigen Vorsitz im Haushaltsausschuss. Hier werden die Finanzentscheidungen für die Abstimmung im Plenum vorbereitet. Auf die konkrete Politik der Bundesregierung kann der Ausschussvorsitzende nur wenig Einfluss nehmen, wie in der vergangenen Legislaturperiode bei der Linken Gesine Lötzsch gesehen.

Vom "totalen Euro" bis hin zur "Merkelnutte"

Der Charme dieses öffentlichkeitswirksamen Amtes liegt für die AfD darin, den ihr eigenen Ton der politischen Debatte in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Nun führt Peter Boehringer den Ausschuss. Er unkt über "internationalistische Weltregierer", die europäische Gemeinschaftswährung nennt er den "totalen Euro". Bereits die Wahl des Vermögensberaters gestaltete sich schwierig, nur die FDP stimmte mit der AfD. Union, SPD und Grüne enthielten sich, die Linkspartei lehnte Boehringer ab. Auch danach rissen die Kontroversen um ihn nicht ab. "Die Merkelnutte lässt jeden rein, sie schafft das", zitierte der "Spiegel" aus einem E-Mail des Abgeordneten. Die Flüchtlingspolitik Merkels bezeichnete er als "unseren Volkskörper, der hier gewaltsam penetriert wird". Dem Magazin teilte Boehringer mit, er könne in seinem Archiv nur eine weniger scharfe Fassung finden. Falls er doch die beleidigende Version versandt haben sollte, dann nur an einen "ganz kleinen Privatkreis".

Im März tauchten weitere E-Mails auf, aus dem Jahr 2016, denen zufolge Boehringer die damalige schwarz-rote Regierung als "Merkel-Gabriel-Junta" und die Wahl der Kanzlerin 2005 als "Machtergreifung" titulierte. Das von "Bild am Sonntag" veröffentlichte Material quittierte Boehringer, er werde zu "angeblichen und/oder privaten E-Mails keine Stellung mehr nehmen".

In puncto Verachtung tatsächlich einzige Opposition

Die AfD genießt die öffentliche Provokation, die ihr mediale Präsenz bringt - ausgerechnet in den von der Partei so verachteten "Systemmedien", die nicht mit kritischer Berichterstattung sparen. Das zeigt sich auch anhand der Auswahl der weiteren beiden Ausschussvorsitzenden: Stephan Brandner fotografierte ein fast leer getrunkenes Bier gemeinsam mit einer Machete und schrieb dazu: "Warten... auf die Antifa oder der/die/das ,Zentrum für politische Schönheit‘ (ein Künstlerkollektiv, Anm.). Vielleicht können die nen Tipp geben, wie ich das Gerät ,künstlerisch‘ gebrauchen kann." Der Mann, der die kaum verhohlene Gewaltandrohung ausspricht, führt den Bundestags-Rechtsausschuss. Und Sebastian Münzenmaier, Leiter des Tourismusausschusses, wurde - noch nicht rechtskräftig - wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung verurteilt. Auch im Plenum hält die AfD den Erregungspegel hoch, etwa wenn sie in völkischem Vokabular vom Regelfall der doppelten Staatsbürgerschaft als "entartet" spricht.

Ende Februar riss Cem Özdemirs Geduldsfaden und der Grüne nannte Abgeordnete der AfD "Rassisten". "Ich habe Özdemirs Rede genossen", sagt der Vorsitzende des parlamentarischen Kontrollgremiums, Armin Schuster, zum ZDF. Der CDU-Politiker rät aber auch: "Bitte kein Schauspiel daraus machen, die AfD zu bekämpfen. Sie sind furchtbar harmlos, wenn man sich ansieht, wie minderwertig die Qualität ihrer Anträge und ihrer Gesetzesentwürfe ist."

In der Verachtung der parlamentarischen Gepflogenheiten ist die AfD tatsächlich die "einzige Oppositionskraft" im Bundestag - als solche sieht die Abgeordnete Beatrix von Storch ihre Partei.