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"Die Leute wählen das geringste Übel"

Von Gerhard Lechner

Politik

Die Chefredakteurin der Putin-kritischen "Nowaja Gazeta" in St. Petersburg über Wahlen, Alt-Lasten und psychotische Politiker.


"Wiener Zeitung": Die russischen Präsidentschaftswahlen stehen vor der Tür, am Sieger gibt es aber jetzt schon keinen Zweifel: Wladimir Putin scheint in Russland auch mehr als 18 Jahre nach seinem Machtantritt überaus populär zu sein. Ist das wirklich so?

Diana Katschalowa: Er war schon einmal populärer. Den Gipfelpunkt seiner Beliebtheit hat Putin zu der Zeit erreicht, als die Krim Teil Russlands wurde. So beliebt wie damals ist Putin heute nicht mehr. Die Leute wählen, wenn sie Putin wählen, nicht den besten Kandidaten. Sie wählen das geringste Übel. Putins Wahlkampfteam weiß das ganz genau. Die Botschaft, die verbreitet wird, lautet: Wenn ihr nicht Putin wählt, wird es so schlimm wie in den 1990er Jahren.

Ist die Erfahrung der Krisenzeit unter Putins Vorgänger Boris Jelzin wirklich immer noch so ein großes Trauma für viele Russen?

Ja. Während der 90er Jahre war es viel schlimmer als heute. In Geschäften konnte man oft nicht einmal etwas zu essen kaufen. Was die Redefreiheit oder die Öffnung der Grenzen anbelangt, waren das damals natürlich bessere Zeiten. Aber das nutzt der Mehrheit der Bevölkerung nur wenig, wenn die Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden können.

Allzu rosig ist die Wirtschaftslage aber auch heute nicht.

Vor einigen Jahren waren die Lebensumstände tatsächlich noch besser. In Städten wie St. Petersburg, Moskau oder Jekaterinburg, wo die Menschen gebildeter sind, wird der schleichende Abstieg auch bemerkt. Aber in den kleineren Städten sieht es anders aus. Viele der dort lebenden Menschen können das, was ihnen erzählt wird, nicht mit der Wirklichkeit abgleichen. Sie merken zwar, dass ihre Lebensbedingungen sich verschlechtern. Sie fürchten aber, dass es unter einem anderen Präsidenten noch viel schlimmer wäre. Wenn sie russisches Fernsehen sehen, wird ihnen erzählt, wie schrecklich alles in der Ukraine ist, in Deutschland, Frankreich und in den USA. Und dann gibt es zwei, drei Sätze über Putin. Es gibt sehr, sehr wenige Nachrichten über Russland, nicht einmal positive.

Warum?

60 Prozent der russischen Bevölkerung haben keine Reisepässe, mit denen sie ins Ausland reisen können, nur Inlandsreisepässe. Sie verlassen oft nicht einmal ihre Städte. Wenn Ihnen dann gesagt wird, wie schrecklich es in Europa und in den USA ist, glauben sie das. Sie können es nicht überprüfen. Die Propaganda bemüht sich, konkurrierende Länder abzuwerten, und hält sich bei der Beschreibung der Zustände in Russland zurück.

Man sagt also nicht: Seht her, wie gut es uns geht?

Nein, das macht man nicht. Man sagt stattdessen: Wenn ihr jemand anderen wählt, wird es Euch viel schlechter gehen.

Sie haben bei einem Vortrag in Wien von den 86 Prozent der Bevölkerung gesprochen, die mehr oder weniger Putins Politik mittragen, und haben gesagt, dass die liberale Moskauer und Petersburger Intelligenzija diese Leute nicht erreicht.

Das stimmt. Die 86 Prozent lesen keine Zeitung, sie hören nur Pop-Radio. Dennoch werden Sie, wenn Sie mit diesen Leuten reden, erfahren, was alles nicht funktioniert: Dass das Gesundheitssystem korrupt ist, dass die Polizei korrupt ist. Aber dann passiert etwas Eigenartiges - ein Schwenk in einen plötzlichen Stolz, in der Art: Ach, aber Putin vertritt uns so gut auf internationaler Bühne, er hat uns die Krim zurückgebracht. Warum zum Teufel, möchte ich da manchmal rufen, brauchen Sie diese Krim? Sie haben doch nicht einmal das Geld, um dorthin zu fahren!

Was ist der Grund für diese Art des Denkens? Ist er vielleicht in der russischen Geschichte zu finden? Man sagt ja, dass der Staat in Russland stets eine viel wichtigere Rolle gespielt hat als die vom Staat losgelöste, autonome Gesellschaft.

Wenn Sie sich die russische Geschichte ansehen, werden Sie merken, dass wir sozusagen nur kurz ohne Zar lebten. Nach der Februarrevolution kamen gleich die Bolschewiki und dann Stalin, der noch viel schlimmer war als jeder Zar zuvor. Dann kam Chruschtschow, dessen Tauwetter aber nur von kurzer Dauer war. Auch seinen Nachfolger Breschnew könnte man mehr oder weniger als Zaren betrachten. Dann gab es wieder zehn Jahre Freiheit, keine lange Periode, wenn man sich die gesamte russische Geschichte ansieht. Diese wenigen Jahre fallen nicht sonderlich ins Gewicht. In den frühen 1990er Jahren, als die Sowjetunion kollabierte, gab es trotz dieser historischen Bleigewichte aber genug Leute, die die Perestrojka und den Weg in die Freiheit unterstützten. Wir haben deshalb damals begonnen, das Land, die Nation zu idealisieren. Ich glaube aber, dass der Rückfall ins Autoritäre nicht nur ein russisches Phänomen ist, wenn man etwa an die letzten Wahlen in Italien denkt, wo allen Ernstes Silvio Berlusconi wieder eine hohe Zustimmungsrate erzielte, oder an die USA, wo Trump gewählt wurde. Es liegt offenbar im Trend, psychotische Führerfiguren zu wählen. Leider haben wir in Russland kein gutes Immunsystem
gegen all das. Wir fallen immer wieder in die Zeit der Zaren zurück.

Im Westen liest man immer wieder über getötete russische Journalisten. Nun ist Ihre Zeitung die bekannteste regierungskritische Zeitung in Russland. Ist es gefährlich, in Russland Journalist zu sein?

Es kommt auf die Recherchen an, die wir machen. Eine Sache, derer wir uns als "Nowaja Gazeta" sehr annehmen, sind die Menschenrechtsverletzungen an Schwulen und Lesben in Tschetschenien. Das ist sicher eines der gefährlichsten Themen. Erstens ist es in Russland unpopulär. Zweitens ist Tschetschenien ein muslimisches Land, dort sind solche Themen ja auch nicht gerade beliebt. Da kann man durchaus auch bedroht werden.

Und sonst?

Wenn man sich heißer Korruptionsgeschichten annimmt, wird zwar das Leben nicht bedroht, aber wir werden unter Druck gesetzt. Ein Beispiel: Kollegen einer Wirtschaftszeitung haben über die korrupten Immobiliengeschäfte von Wladimir Litwinenko geschrieben. Das ist der Rektor der Universität für Bergbau, einer der prominentesten Figuren in St. Petersburg, der auch Mitglied im Wahlkomitee von Putin ist. Alles war auf Punkt und Beistrich dokumentiert - dennoch hat Litwinenko die Zeitung verklagt, und die Chancen, dass er den Prozess verliert, sind nicht allzu hoch. Das Problem ist, dass das Gerichtssystem in Russland so gestaltet ist, dass sie auch dann, wenn sie zu 100 Prozent recht haben und das auch belegen können, keine Chance haben, gegen solch einflussreiche Leute zu gewinnen.

Was denken Sie über Putin-Gegner Alexej Nawalny? Bei Ihrem Vortrag in Wien haben Sie gesagt, Sie würden niemals für ihn stimmen, wenn er bei Wahlen antritt.

Das stimmt. Dennoch sind er und sein Team sehr wichtig. Nur Nawalny und seine Leute erreichen diese 86 Prozent der Bevölkerung, die Putins Politik grundsätzlich mittragen, überhaupt. Die liberalen Medien in Moskau und St. Petersburg können das nicht. Nawalny ist der Einzige, der mit seinen Aufdeckervideos über Korruption - ein Thema, das viele Menschen im Alltag betrifft - einen Zugang zu diesen Leuten hat. Die Art und Weise, wie er das macht, ist großartig. Das heißt nicht, dass er mir als Präsident gefallen würde. Er würde sich kaum von Putin unterscheiden.

Wladimir Putin hat in seiner dritten Amtszeit stark auf konservative Werte gesetzt, auch auf die russische Orthodoxie. Hat er tatsächlich eine konservative Vision von Russland? Oder ist das alles nur Taktik, um sich den Machterhalt zu sichern?

Das ist Taktik. Putin und die Leute um ihn sind sehr pragmatisch. Ein Beispiel: Als es im vergangenen Jahr in St. Petersburg erheblichen Widerstand gegen den Plan gab, ein Kirchengebäude der Kirche zurückzugeben, hat die Regierung das Vorhaben abgeblasen. Man wollte keinen Wirbel vor der Präsidentschaftswahl, und das war dann doch wichtiger als die Verbundenheit zur Orthodoxen Kirche.

In den 1990er Jahren war viel von der "Russischen Mafia" die Rede, davon, dass Geschäftsleute "Beschützer" brauchten. Hat sich das verbessert? Hat Putin da Erfolge gefeiert? Oder ist jetzt nur eine andere Art Mafia am Werk?

In den 1990er Jahren war es tatsächlich so, wie man sich Chicago im Jahr 1930 vorstellt. Es gab Schießereien auf den Straßen, es floss Blut, es gab Tote. Die sogenannten "Neuen Russen", die neureichen Aufsteiger, die die damalige Szenerie beherrschten, waren absolut ungebildet und sind mit unglaublich protzigen Autos herumgefahren. Russland war in dieser Zeit eine Art Gangster-Staat. Wenn sie im "Business" nicht involviert waren, haben sie mehr oder weniger arm und ruhig gelebt. Aber wenn sie irgendwelche Kontakte in diese Sphäre hatten, war es wirklich gefährlich. Jetzt ist die Lage anders. Es gibt Lobbys - etwa im Parlament -, aber die töten niemanden. Es läuft so gesehen jetzt viel zivilisierter ab. Das Geld, und zwar ungeheuer viel Geld, ist heute in den Händen einer sehr kleinen Gruppe rund um Putin. Diese Leute sind deutlich gebildeter und zivilisierter als die "Neuen Russen" der 1990er Jahre, ihre Kinder studieren in Oxford oder Harvard, sie lernen dort Sprachen. Hier hat sich also eine Art neuer Elite herausgebildet, die sich auch als solche versteht.

Zur Person

Diana Katschalowa ist Chefredakteurin der "Nowaja Gazeta" in St. Petersburg, der renommiertesten regierungskritischen Zeitung in Russland, die für ihren investigativen Journalismus - etwa in Tschetschenien - bekannt ist.