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Der polnische Graben

Von Martyna Czarnowska

Politik

Seit acht Jahren sorgt der Umgang mit dem Flugzeugunglück von Smolensk für Streit in Politik und Gesellschaft.


Warschau/Wien. Die Stiege führt ins Nichts. Die schwarzen, immer schmäler werdenden Granitstufen hören oben einfach auf. Von der Seite betrachtet sieht die Skulptur aus wie eine fahrbare Fluggasttreppe, die an die Kabinentür eines Flugzeugs herangeschoben wird. Sie könnte aber ebenso an einen Grabhügel erinnern.

Das ist denn auch die Intention des Denkmals, das am heutigen Dienstag offiziell in der polnischen Hauptstadt Warschau enthüllt wird. Anlass ist der achte Jahrestag des Flugzeugunglücks bei der russischen Stadt Smolensk, bei dem der damalige Staatspräsident Polens, Lech Kaczynski, sowie 95 weitere Menschen umgekommen sind. Die Delegation aus hochrangigen Politikern, Militärs und anderen Repräsentanten des Staates war auf dem Weg zu einer Gedenkfeier in Katyn. Der Name des kleinen Ortes ist in Polen ein Symbol für die Verbrechen der Sowjets während des Zweiten Weltkrieges. Er steht für die Ermordung tausender polnischer Offiziere, Beamter und Intellektueller durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD im April 1940.

Seit acht Jahren ist aber auch Smolensk ein Symbol - unter anderem für die Gräben, die sich durch die polnische Politik und Gesellschaft ziehen. Diese brachen schon kurz nach der Zeit der gemeinsamen Trauer um die Toten wieder auf. Denn die nationalkonservative Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) erhob die Flugzeugkatastrophe zu einem Mythos. Ihr Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski, der bei dem Unglück seinen Zwillingsbruder verloren hatte, schürte immer wieder Zweifel an der offiziellen Version eines Unfalls. Bald schon kursierten Verschwörungstheorien: Es sei eine Bombe an Bord des Flugzeugs gewesen, die Russen wären an einem Anschlag beteiligt, die damalige polnische Regierung habe bei der Vertuschung krimineller Machenschaften geholfen. Als PiS vor zweieinhalb Jahren von der liberaleren Bürgerplattform (PO) die Regierungsmacht übernahm, setzte die Partei auch eine neue Untersuchungskommission ein. Beweise für ein Attentat konnte diese nicht bringen.

Nationalstolz als Argument

An einen Anschlag glaubt zwar nur ein kleiner Teil der polnischen Bevölkerung, der vor allem von PiS-Anhängern gebildet wird. Doch ist Smolensk zu einem Sinnbild geworden für die Brüche zwischen jenen, die fast alles von außen als einen Angriff auf Polens Nationalstolz und Werte ansehen und jenen, die sich für ein offenes Land und eine offene Gesellschaft aussprechen. Gerade Begriffe wie "Stolz" und "Werte" überfrachten nämlich etliche Debatten. In der Weigerung der polnischen Regierung, Flüchtlinge aufzunehmen, schwingt die Sorge vor dem Islam - und damit vor potenziellen Gefahren für das Christentum - mit. In den außenpolitischen Streitigkeiten argumentieren Vertreter des Kabinetts mit polnischen Nationalinteressen, die nicht veräußert werden dürften. Das bringen sie auch im Zwist mit der EU-Kommission vor, die ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Polen eingeleitet hatte.

Dabei geht es der Brüsseler Behörde, die aus Warschauer Sicht die Entwicklungen in Polen schlicht nicht versteht, nicht um selbstgefällige "Einmischung von außen". Denn auch im Land selbst gibt es genug Einwände gegen den Umbau des Staates, den PiS seit der Machtübernahme betreibt - im Justizwesen, im öffentlichen Dienst, im Medien- und Bildungsbereich. Was für die Regierung Reformen sind, sind für Kritiker Schritte zur Aufweichung demokratischer Strukturen. Protest regt sich ebenso gegen die Einflussnahme der katholischen Kirche in der Politik sowie gegen Versuche zur Verschärfung der Abtreibungsgesetze.

Tauziehen um den Standort

Dass diese Gräben in der Gesellschaft nicht zugeschüttet werden, dafür sorgen etliche PiS-Politiker immer wieder. Auch dafür bietet die Katastrophe bei Smolensk und der Umgang damit ein Beispiel. Der Errichtung des Denkmals, auf dem die Namen der 96 Opfer zu lesen sind, ging ein Streit um die Platzierung voraus. Die Warschauer Stadtregierung, von der ehemaligen Regierungspartei PO dominiert, wollte einer Aufstellung der Skulptur auf dem Pilsudski-Platz nicht zustimmen. Es ist einer der zentralen und einer der wenigen noch unverbauten größeren Plätze der Hauptstadt. An seinem Rand steht bereits ein Denkmal: das Grab des unbekannten Soldaten. Anders als die Smolensk-Skulptur löst diese Gedenkstätte aber keine emotionalen politischen Debatten aus. Das mag mit ein Grund für das Veto der Stadtregierung gegen das neue Denkmal gewesen sein.

Doch sorgten PiS-Minister dafür, dass die übergeordnete administrative Einheit - dem Bundesland vergleichbar - die Verfügungsgewalt über den Platz erhält. Dann wurde die Zustimmung für den Bau erteilt.

PO-Politiker haben schon angekündigt, nicht zur feierlichen Enthüllung zu gehen. Das Denkmal trage nicht dazu bei, Einheit zu schaffen. Das könnte auch die Meinung etlicher Warschauer Bürger sein.