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Die neue letzte Hoffnung

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

In Sarajevo hat die Flüchtlingskrise gerade erst begonnen. Jede Woche kommen 500 neue Flüchtlinge an.


Sarajevo. Die Schlange steht am Rand des leeren Bahnhofsvorplatzes. 50 oder 60 Menschen, nur als Silhouetten erkennbar, warten im schwachen Schein der paar Laternen auf einen Plastikteller voll Reis. Es ist kurz nach 21 Uhr. Aus der Heckklappe eines Pkw teilen Helfer das Essen aus. Eingenommen wird es in kleinen Grüppchen, kauernd auf dem Boden. Wartereihen vor Essensausgaben, solche Bilder erinnern an die Städte Südosteuropas im Herbst 2015 oder dem folgenden Winter. Diese Szene aber spielt sich Mitte Mai 2018 ab. In Sarajevo ist die Flüchtlingskrise nicht Vergangenheit. Sie hat eigentlich gerade erst begonnen.

Ein schmaler junger Mann aus Pakistan, nennen wir ihn Rahim, sitzt mit vier anderen auf einem Bordstein. Er beugt sich über seine erste Mahlzeit an diesem Tag. Rahim trägt eine leichte Jacke und ein Tuch um den Hals. Mehr hat er nicht, in den Nächten, die immer noch frisch sind. Er verbringt sie in einem Park im Zentrum, ohne Zelt, ohne Schlafsack. "Schau mich an", sagt Rahim, "ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen." Zuvor war er mit seiner Gruppe drei Tage lang unterwegs, von Serbien kommend über die Grenze. Und auf die gleiche Weise soll es weitergehen, bis nach Kroatien.

Mit dem Türkei-Deal der EU und den Grenzschließungen im Frühjahr 2016 wurde das, was man zuvor die Balkanroute nannte, zum Standbild. Was nicht bedeutet, dass sich keine geflüchteten Menschen mehr in der Gegend aufhielten. Mehrere Tausend saßen fest, vor allem in Serbien. Sie versuchten, ein Schlupfloch in die EU zu finden, nach Ungarn oder Kroatien, doch in den allermeisten Fällen wurden sie von Grenzbeamten aufgegriffen und gewaltsam zurück nach Serbien gebracht. Diese Push-backs von Asylsuchenden sind illegal. Im Zuge der Zielsetzung, die Balkanroute endlich stillzulegen, werden sie jedoch in Kauf genommen.

Eine Odyssee von vier Jahren

Die meisten derer, die sich 2018 nach Bosnien aufmachen, waren in Serbien gestrandet. Viele sind nicht wochen- oder monatelang unterwegs, sondern seit Jahren. Rahim etwa, der in Pakistan zur Schule ging und nebenher Jobs annahm, verbrachte die letzten vier Geburtstage auf seiner Odyssee. Heute ist er 20, und endlich ist da ein Ziel am Horizont aufgetaucht: die 900 Kilometer lange Grenze zwischen Bosnien-Herzegovina und Kroatien, bergig und schwer zu sichern. Auf bosnischer Seite ist die Polizei chronisch unterbesetzt.

Der Weg dorthin führt über Sarajevo. Gut tausend Geflüchtete, so die International Organisation of Migration (IOM), sind in der Stadt. Immer mehr sind es geworden seit dem Jahresbeginn. Wer noch Geld hat, kann sich ein billiges Hotel leisten. Manche werden von Bürgern der Stadt beherbergt. Die meisten aber sind an Orten untergekommen, die kurzerhand zum Camp umfunktioniert wurden. Das größte und auffälligste davon ist der Park mitten in der Hauptstadt, gegenüber des Alten Rathauses, wo auch Rahim und seine Freunde ihr zwischenzeitliches Basislager haben. Der Park ist klein, vielleicht 50 mal 75 Meter. Fast überall stehen Zelte. Mehr als 200 Menschen sind es, die hier schlafen oder es versuchen, die essen, rasten, warten.

Weit über der Kapazitätsgrenze

3500 Migranten, so die offiziellen Zahlen der Regierung, wurden seit Jahresbeginn in Bosnien registriert. Aktuell kommen jede Woche etwa 500 hinzu - drei Mal mehr als die Kapazitäten des einzigen Asylbewerberzentrums. Im Park von Sarajevo sind einige Helfer in neongelben Westen dabei, ein Gerüst aus Stangen aufzubauen, für ein größeres Zelt. Kleinkinder laufen herum, mehrere Buben sitzen auf den Bänken, selbst Großeltern hocken in den Zelteingängen. Warum Rahim gestern erst abends eine Mahlzeit bekam, ist leicht ersichtlich: An einer zentralen Stelle geben immer wieder Bürger Lebensmittel ab. Die Hilfsbereitschaft ist auffallend, doch strukturiert ist sie nicht. Um das Essen so verteilen zu können, dass alle satt werden, ist das Camp im Park einfach zu schnell gewachsen.

Nidzara Ahmetasevic hat vor dieser Entwicklung lange gewarnt. Die Journalistin gehört zu der kleinen Gruppe von Freiwilligen, die sich um die Menschen im Park kümmern. "Es war eine Frage der Zeit, bis die Migranten es in Bosnien versuchen. Alle anderen Wege sind versperrt, die Gewalt an den Grenzen hat immer mehr zugenommen", sagt sie. "Dies ist ihre letzte Hoffnung." Seit 2016 warb Ahmetasevic beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der IOM um Aufmerksamkeit - vergeblich. Inzwischen erwägt der bosnische Ministerrat, Auffangzentren für die Migranten zu errichten. Für Nidzara Ahmetasevic bedarf es dieser Frage nicht: "Es gibt im Park weder Duschen noch Toiletten. Die Menschen schlafen in Exkrementen."

Die IOM hat die Notlage inzwischen erkannt. West-Balkan-Koordinator Peter Van der Auweraert ist permanent vor Ort und drängt die bosnischen Autoritäten zum Handeln. "Wenn es nicht eine sehr kurzfristige Lösung gibt, droht hier eine humanitäre Krise. Wir brauchen eine offizielle Unterbringung", sagt Van der Auweraert. "Das bietet auch Schutz vor Schmugglern und verbessert Gesundheitssorge und Hygiene." Die IOM hat im Mai vorläufig selbst eine Unterkunft eröffnet. In Bihac, 300 Kilometer nordwestlich von Sarajevo, keine 20 Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Eine Notlösung, räumt Van der Auweraert ein: "Es ist absolut keine fantastische Unterkunft, vor allem nicht für Kinder. Aber besser, als im Feld zu schlafen."

Auf dem Weg dorthin sieht man, warum die Grenze als schwer kontrollierbar gilt. Es ist unwegsames Terrain, Bergketten lösen einander ab, dazu erinnern zahlreiche verlassene und halb verfallene Häuser an den bosnischen Bürgerkrieg. Ähnlich sieht auch die Notlösung der IOM aus: Ganz am Rande der Stadt liegt sie gegenüber dem Stadion, halb verdeckt von hohen Nadelbäumen, am Fuß eines Berges. Einst war es ein Studentenheim, dann eine Armee-Unterkunft. Die Zerstörungen des Krieges haben daraus wieder einen Rohbau gemacht: nackter Beton mit hohen, leeren Fensteröffnungen, klaffende Löcher, die sich zwischen den Zweigen auftun.

Weil auch in Bihac immer mehr Migranten wild im Freien campierten, schlugen IOM und Rotes Kreuz dem Bürgermeister vor, hier eine provisorische Auffangunterkunft zu errichten. Sie stellten Duschen und Toiletten auf, schlossen wieder Elektrizität an, säuberten die Böden, sie organisierten Matratzen und medizinische Hilfe. Nun ist die Kriegsruine ein Zufluchtsort für Geflüchtete - wenngleich ein beklemmender. Überall liegt Abfall, keine einzige Treppe hat ein Geländer, und die etwa 20 Kinder könnten leicht aus einer der Fensteröffnungen fallen.

Tagelange Verhandlungen

In Sarajevo wird unterdessen tagelang über eine Lösung verhandelt. Anfangs sitzen UNHCR und IOM noch mit am Tisch, dann geht der Ministerrat in Klausur. Es ist Donnerstag, als die Regierung ankündigt, die Grenzen künftig strenger zu bewachen, um den Zustrom von Migranten einzudämmen. Freitag morgen in aller Frühe wird dann das Lager im Park geräumt. Ein Schritt, den die Helfer schon alleine deshalb erwarteten, weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag einen Wahlkampf-Auftritt in Bosniens Hauptstadt abhalten wird.

Fünf Busse fahren am Park vor, 269 Migranten steigen ein, darunter 18 Kinder. In Salakovac, 120 Kilometer weiter südlich, will die Regierung sie in einem Auffangzentrum unterbringen. Dann passiert etwas Unvorhergesehens: Nach etwa zwei Dritteln der Strecke, an der Grenze zum Kanton Hercegovina-Neretva, blockiert die Kanton-Polizei den Konvoi und schickt ihn zurück Richtung Sarajevo.

Dragan Mektić der Sicherheitsminister, das für die Räumung zuständig ist, weiß nicht, wer die Blockade angeordnet hat. Nicht zum ersten Mal zeigt sich: eine Migranten- Krise hat im früheren Jugoslawien auch das Zeug zur politischen Krise. Vier Stunden dauert es, bis die lokalen Autoritäten nachgeben. Inzwischen haben die ersten Migranten die Baracken des Auffangzentrums bezogen.