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"Primitiver Populismus in Italiens Wirtschaft"

Von Anja Stegmaier

Politik

Der Ökonom Stephan Schulmeister über Austeritätspolitik, die zu Populismus führt, und die Stärken Europas.


"Wiener Zeitung": Herr Schulmeister, Italiens neue Regierung steht mit ihrem Wirtschaftsprogramm etwa in Deutschland in der Kritik. Rom müsse sparen, sonst blüht ein neues Griechenland. Stimmt das?

Stephan Schulmeister: Nein, das ist viel komplizierter und reicht weit in die Vergangenheit zurück. Italien hatte traditionell schon vor der Gründung der Währungsunion ein überdurchschnittlich hohes Niveau der Staatsverschuldung. Gleichzeitig war das Land fast ausschließlich bei seinen eigenen Bürgern verschuldet. Das unterscheidet das Land von Griechenland oder Spanien. Das Problem besteht jetzt darin, dass die neue Regierung EU-kritisch ist und die Währungsunion teilweise ablehnt. Das führt mit dem hohen Schuldenstand zu diesen Ermahnungen.

Ist die Kritik ungerechtfertigt?

Das Grundproblem ist, dass in der deutschen Politik und auch in der EU-Kommission offiziell noch immer der Leitsatz gilt: "Der Schuldner ist schuld." Es herrscht die Vorstellung, dass wenn jemand ein Defizit hat und noch dazu fast permanent, dann ist er selbst schuld. Und er hat auch die Möglichkeit und die Verpflichtung, dieses Defizit zu steuern. Aber: Das ist eine falsche Diagnose. Denn der Staat ist nur ein Teil des ökonomischen Gesamtsystems. Wenn in anderen Teilen der Ökonomie etwas passiert, wie eine Finanzkrise, dann erleidet der Staat ein Defizit. Das bedeutet nicht, dass er nichts dagegen tun kann, aber seine Möglichkeiten sind beschränkt. Wir wissen heute, dass in den Ländern, in denen am meisten gespart wurde, die Staatsschuldenquote am stärksten gestiegen ist. Nicht nur in Südeuropa, auch in Großbritannien.

Was hindert Italien, seine Finanzlage zu verbessern?

Das sind viele Probleme, die man unter dem Begriff "strukturell" subsumieren kann. Es beginnt mit dem Unterschied zwischen dem Norden und Süden im Land - wovon die Lega in ihrer rechten Politik profitiert, bis hin zur Tatsache, dass Bereiche der italienischen Exportindustrie durch Verlagerungen im Rahmen der Globalisierung in Mitleidenschaft gezogen wurden. Kurz: Italien wurde zum Wachstumsnachzügler in der Eurozone schlechthin - nach Deutschland. Bis zum Jahr 2006 war Deutschland der große kranke Mann Europas.

Steckt Italien in einem Teufelskreis?

Ja. Italien braucht jetzt nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und politisch eine europäische Perspektive. Denn beim Aufkommen EU-kritischer und populistischer Parteien gleichzeitig ein weiteres Schrumpfen zu verlangen - und zudem bei der Verteilung der Flüchtlinge völlig zu versagen -, befördert den Populismus in Italien ungemein.

Haben Sie einen Ausweg?

Klug wäre es, wenn es so etwas wie ein "Recovery"-Programm gäbe. Ein auch von der EU mitfinanziertes Programm, für ganz Südeuropa - insbesondere auch für Griechenland. Es braucht eine Förderung langfristiger Investitionen, durch extrem günstige Finanzierungen durch die europäische Investitionsbank, um so etwas wie einen selbsttragenden Aufschwung überhaupt erst einmal zustande zu bringen.

Spielen da die EU-Partner mit?

Das Problem ist, dass nach der Finanzkrise 2008, Deutschland den anderen Ländern Wasser gepredigt und selbst ein paar keynesianische Achterl getrunken hat. Man kann beweisen, dass Deutschland nach 2008 still und heimlich einen Kurswechsel vollzogen hat. Die Staatsausgaben wurden erhöht, der Mindestlohn eingeführt, zum Teil Sozialleistungen erhöht. Deutschland begründet das aber damit, dass es vorher seine Hausaufgaben gemacht hat. Das ist aber keine kluge Begründung, denn diese Hausaufgaben haben ja die deutsche Wirtschaft davor auch in Mitleidenschaft gezogen.

Die neue Regierung in Italien will Steuern senken und plant höhere Sozialausgaben. Soll das gut für das Wachstum sein?

Nein. Denn wenn man schon ein zusätzliches Defizit in Kauf nimmt, ist es umso wichtiger, dass die Maßnahmen nachhaltig sind. Es reicht nicht, kurzfristig Steuern zu senken und irgendwelche Sozialtransfers zu erhöhen. Es wäre wichtig, die Infrastruktur zu verbessern und die ungleichen Rahmenbedingungen in Süditalien anzugehen. Aber das sind genau die Punkte, wo die beiden Parteien ideologisch zu weit auseinanderliegen und deshalb machen sie eine Politik, die ihrem gemeinsamen Nenner entspricht. Und das ist primitiver Populismus.

Bedeutet so ein "Gesundungs-Programm" auch ein gemeinsames Budget für die Eurozone?

Es geht nicht darum, ob wir mehr oder weniger Europa brauchen. Es geht vielmehr darum, an welchen Leitlinien sich die Politik orientieren wird und wie sie diese konkret in ihren Maßnahmen umsetzt. Es muss wieder eine gemeinsame Navigationskarte erarbeitet werden.

Was wäre der Inhalt einer solchen Karte?

Im Klartext: Was sind die Stärken Europas? Die liegen nicht in der Finanzspekulation, sondern in der Realwirtschaft. Nicht im Vorrang für den Markt, sondern in einer Balance zwischen Markt und Staat, wie es in der Welt der sozialen Marktwirtschaft erfolgreich realisiert wurde. Solange man sich in diesen Grundprinzipien nicht einigen kann, wird es sehr schwer sein, eine Politik zu verfolgen, die Europa wieder näher zusammenbringt.

Könnte Italien den Kurs der Eurozone verändern oder zwingt der Druck Rom zum Einlenken ?

Rom wird sich mit dieser neuen Regierung nicht so leicht fügen, denn der gemeinsame Nenner der Parteien ist die Verbitterung über die Behandlung Italiens durch die EU. Innenpolitisch werden sie alles vermeiden, was wie eine Demutsgeste gegenüber Brüssel aussieht. Die Frage ist nur, ob sie sich klug anstellen. Machen sie es wie Griechenland und gehen in aller Öffentlichkeit auf Konfrontation, ist das nicht klug. Machen sie es wie Spanien und halten de facto Regeln jahrelang nicht ein und reden auch nicht viel darüber, wird man schauen müssen, was überhaupt an Konsequenzen blüht. Denn die EU hängt das auch nicht gerne an die große Glocke. Und es ist nicht im Interesse der EU, dass sich die Situation in Italien weiter zuspitzt. Angesichts auch dessen, dass die Flüchtlingsströme eher wieder zu- als abnehmen werden und die Partnerländer nicht wirklich bereit sind, Italien dabei nachhaltig zu helfen.