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Das Hellenikon-Ultimatum

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglu

Politik

Eine Sozialklinik in Griechenland soll einem Stadtentwicklungsprojekt für eine gehobene Klientel weichen.


Athen. Georgios Vichas erfuhr von dem Ultimatum, als er in seiner Wohnung seiner kleinen Adoptivtochter ein Märchen vorlas. Das kleine Mädchen hatte er erst vor wenigen Wochen aus Äthiopien nach Athen mitgebracht und zum neuen Familienmitglied gemacht. Vichas brauchte nicht lange, um den Text, den seine Mitstreiter nach der Zustellung sofort gescannt und ihm gemailt hatten, auf seinem Smartphone zu lesen. Große Wut habe er dabei verspürt, sagt der Mittfünfziger, der normalerweise eine fast stoische Ruhe bewahrt. "Es ist dieser Zynismus, diese Unmenschlichkeit, die diese wenigen Zeilen versprühen. Zugleich hat es uns allen, mir und meinen Kollegen, aber auch einen innerlichen Auftrieb verliehen. Um weiterzukämpfen. Jetzt erst recht."

Vichas, dichtes Haar, sportlich, sitzt an diesem brütend heißen Tag im Juni in seinem Behandlungszimmer in der Sozialklinik Hellenikon im Südosten von Athen. Der Kardiologe hat die Klinik Ende 2011 gemeinsam mit anderen Freiwilligen gegründet. Ihr Credo: "Wer krank und arm ist, dem helfen wir. Keiner ist in der Krise alleine."

Kollabiertes Gesundheitssystem

Damals, vor sieben Jahren, hatte die desaströse Griechenland-Krise gerade ihren Anfang genommen. Ob die drastischen Einschnitte bei Löhnen, Gehältern und Pensionen oder die grassierende Massenarbeitslosigkeit: Die Mittelschicht schrumpfte, die Armut stieg. Abrupt und rapide. Die Statik der Hellenischen Republik kippte. Das Gesundheitssystem kollabierte. Ohne Sicherheitsnetz. Ohne Grundsicherung.

Das Versprechen, keinen alleine zu lassen, haben die 65 Ärzte, 22 Zahnärzte, 18 Apotheker, acht Psychologen, sechs Spezialtherapeuten und vier Ernährungswissenschafter gemeinsam mit 254 Bürgern in der Sozialklinik Hellenikon gehalten. Tag für Tag. Unermüdlich und alle ehrenamtlich. Geldspenden haben die Betreiber dabei keine angenommen, sondern lediglich Sachspenden aus Österreich, der Schweiz, Deutschland und vielen anderen Ländern.

64.017 Patienten haben bis Ende Mai die Sozialklinik Hellenikon besucht. Mehr als 900.000 Packungen Medikamente erhielten die Kranken seit der Eröffnung der Sozialklinik. Völlig kostenlos. Wer glaubt, die Not in Hellas habe sich derweil verringert, irrt aber gewaltig. Gerade Medikamente sind für die Patienten heute teurer denn je. Denn mit der Krise in Griechenland kamen auch schlagartig gestiegene Selbstbeteiligungen bei verschreibungspflichtigen Arzneien. Dies können sich viele Griechen einfach nicht mehr leisten. Sie suchen notgedrungen die Sozialklinik Hellenikon auf.

Räumung ohne Vorwarnung

Doch damit soll schon bald Schluss sein. Der ominöse Brief, den Vichas auf sein Smartphone bekam, trägt das Datum 30. Mai 2018. Der Absender: "Hellenikon AG" Der Empfänger: "Sozialklinik Hellenikon." Betreff: "Der Wegzug der Sozialklinik." Der Brief selbst ist so kurz wie unmissverständlich gefasst: "Wir setzen Sie davon in Kenntnis, dass das Gebäude auf dem früheren Flughafengelände, in dem die Sozialklinik Hellenikon ihre Dienstleistungen anbietet, zu räumen und bis spätestens 30. Juni 2018 frei zur Nutzung zu übergeben ist." Unterzeichnet hat Sultana Spyropoulou, die Präsidentin und Geschäftsführerin der Firma Hellenikon AG. Sie hat den Brief auch gleich an mehrere Minister geschickt.

Der 30. Juni. Das ist Spyropoulous Ultimatum. Der Rauswurf traf Vichas wie ein Blitz aus heiterem Himmel. "Wir wurden darüber zuvor nicht unterrichtet, nicht einmal ansatzweise", sagt er. Man habe auch keine Alternative angeboten bekommen. "Wo sollen wir die Sozialklinik weiterführen?"

Die Klinik ist in einem einstöckigen Gebäude eingerichtet. Eine Metro-Station ist zu Fuß erreichbar. Die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel sei für die Patienten sehr wichtig. "Wer arm ist, kann sich eben kein Taxi leisten." Nicht einen Cent Miete musste die Sozialklinik hier in Hellenikon zahlen. Das Gebäude, das auf dem Areal des früheren Athener Flughafens steht, gehörte beim Einzug Ende 2011 noch der Stadt, die von Beginn an auch die Strom- und Telefonkosten übernahm.

Doch die Krise hat Hellas nicht nur in seinen Grundfesten erschüttert. Griechenland, das sich im Frühjahr 2010 an den Rand des Staatsbankrotts manövrierte und seither sparte und sparte, muss auch Staatsbesitz im großen Stil privatisieren. Und das weitläufige Areal des alten Flughafens Hellenikon ist ein Filetstück.

Casinos und Nobelhotels

Seit mehr als 17 Jahren ist hier kein Flugzeug mehr gelandet. Gleichwohl stehen die Schilder immer noch: "Domestic Arrivals", "International Departures". Die Terminals verfallen. Ein Jumbo-Jet der Olympic Airways vergammelt am Rand des Vorfelds. Doch das triste Bild trügt. Ein Grundstück wie dieses existiert in keiner anderen Metropole Europas: 620 Hektar Land, eine Fläche, dreimal so groß wie Monaco, grandios gelegen an der malerischen Saronischen Küste, dem teuersten Fleck an der Attischen Riviera. Experten schätzen den Wert der Liegenschaft Hellenikon auf mindestens drei Milliarden Euro, ohne jegliche Bebauung wohlgemerkt.

Griechenlands Gläubiger-Quartett aus EU, EZB, Internationalem Währungsfonds und neuerdings dem Europäischen Stabilitätsmechanismus hat das brache Hellenikon-Areal ins Visier genommen und Druck auf Athen ausgeübt. Ausgerechnet Premier Alexis Tsipras, Chef des "Bündnisses der Radikalen Linken" (Syriza), der im Jänner 2015 an die Macht kam und den rigorosen Spar- und Privatisierungskurs kurzerhand beenden wollte, knickte ein: Die Regierung verhökerte das gesamte Hellenikon-Areal für eine Pacht von gerade einmal 915 Millionen Euro für 99 Jahre. Dies entspricht einer Miete von nur rund 9 Millionen Euro pro Jahr.

Während Tsipras sonst Steuern und Abgaben erhöht, zeigt er sich in der Causa Hellenikon sehr spendabel. Um dem Investor das Geschäft noch zusätzlich zu versüßen, ist es von der Grundsteuer, die ihn Griechenland besonders hoch ist, komplett befreit - mit dem Segen der Griechenland-Gläubiger wohlgemerkt. Den Zuschlag bekam die griechisch-chinesisch-arabische Global Investment Group (GIG). Neben dem Konsortiumsführer Lamda sind an dieser Firmengruppe der chinesische Mischkonzern Fosun International und der Immobilienentwickler Al Maabar aus Abu Dhabi beteiligt.

Bald wollen die Investoren rund 8000 luxuriöse Wohnungen, mehrere Nobelhotels, ein Einkaufs- und Kongresszentrum, Freizeit- und Sportanlagen, eine Marina und ein Spielcasino errichten. Es ist Europas größtes urbanes Entwicklungsprojekt, insgesamt 8 Milliarden Euro will CIG hier investieren.

Lukrative Nähe zur Macht

Die Befürworter schwärmen davon, dass die Krise in Griechenland vorbei sei, wenn dieses Projekt komme. Sie berufen sich auf Studien, wonach Hellenikon eine Million zusätzliche Touristen pro Jahr anziehen und fast 2,5 Prozent zum griechischen Bruttoinlandsprodukt beisteuern werde. Und sie rechnen damit, dass in der Bauphase 75.000 Arbeitsplätze entstehen dürften.

Dass das Hellenikon-Projekt ein Sinnbild für einen neuen Aufbruch in Hellas ist, will Vichas so allerdings nicht ganz glauben. "In dieser Region gibt es tausende kleine Geschäfte und Betriebsstätten. Die Klein- und Kleinstunternehmer werden aufgeben müssen, sie werden der Konkurrenz der Shopping-Malls nicht standhalten können", sagt der Sozialklinikbetreiber. "Viele kleine Leute verlieren, wenige Große gewinnen."

Einer der sicheren Gewinner, der sich voller Vorfreude die Hände reibt, ist Spyros Latsis. Er kontrolliert den GIG-Konsortiumsführer Lamda. Latsis, Sohn des legendären Reeders Jannis Latsis, ist mit einem Vermögen von 3,2 Milliarden Euro einer der reichsten Griechen der Welt. Er residiert in Genf und dirigiert von dort aus sein international tätiges Firmenimperium.

Lamda ist bereits seit geraumer Zeit in Griechenland aktiv und hat dabei immer wieder Wellen geschlagen, wenn es um die Privatisierung von Staatsbesitz ging. Denn Lamda erhielt nicht nur besonders häufig den Zuschlag, die dafür bezahlten Preise waren nach Ansicht von Kritikern zumeist auch skandalös niedrig. Wie groß Latsis’ Einfluss auf die Regierung Tsipras ist, zeigt ein Blick auf dessen Kabinett: Bildungsminister Kostas Gavroglou, einer der engsten Mitarbeiter von Tsipras, war bis Ende 2016 im Vorstand der Latsis-Stiftung.

Klinikteam will nicht aufgeben

Damit Latsis und Co. die Bauarbeiten in Angriff nehmen können, muss das Mega-Areal Hellenikon komplett geräumt werden. Und da scheint man auch vor einer härteren Gangart nicht zurückzuschrecken. So wurde nur wenige Stunden nach der Zustellung von Spyropoulous Brief der Sozialklinik plötzlich der Strom abgedreht. Erst nach heftigem Protest wurde er wieder eingeschaltet. "Wir haben teure Medikamente, darunter gegen Krebs, sie kosten teilweise mehrere tausend Euro", ärgert sich Vichas. "Sie müssen unbedingt kühl aufbewahrt werden. Andernfalls verfallen sie."

Doch er gibt sich kämpferisch. "Wenn der 1. Juli anbricht, werden wir hier in der Sozialklinik sein. Wir werden unsere Patienten behandeln und uns um sie kümmern. Sie brauchen uns. Wir sind Ärzte. Wir haben den Hippokratischen Eid abgelegt. Und kein Ultimatum der Welt kann daran etwas ändern."