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Irrfahrten im Mittelmeer

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

Italiens Regierung benutzt Flüchtlingsschiffe als Druckmittel in der EU - und um innenpolitisch Exempel zu statuieren.


Rom. Vielleicht ist es der Vorgeschmack auf eine neue europäische Flüchtlingspolitik. Am Dienstagnachmittag einigten sich Italien und Malta unter Vermittlung von Frankreich und Spanien auf eine Lösung für das deutsche Rettungsschiff "Lifeline" mit 234 Flüchtlingen an Bord. Seit fünf Tagen bewegte sich das eigentlich nur für 50 Passagiere ausgelegte Boot der Dresdner Organisation Mission Lifeline ohne Anlaufstelle im Mittelmeer südlich von Malta. Am Dienstag folgte schließlich die Einigung. Die Migranten sollen von "einigen willigen Staaten" aufgenommen werden, teilte die maltesische Regierung mit. Unter dieser Bedingung stimmte die Regierung von Joseph Muscat der Landung der "Lifeline" im Hafen von La Valletta zu. Auch Italien erklärte sich zur Aufnahme einiger Migranten bereit.

Zuvor hatten italienische Journalisten, die in den letzten Tagen auf der "Lifeline" waren, von einer "surrealen Stille" an Bord berichtet. Bilder im italienischen Fernsehen zeigten dutzende sitzende oder liegende und teilweise seekranke Flüchtlinge auf dem Schiff, die sich in Bundeswehr- oder Thermodecken hüllen. Für Italiens Innenminister Matteo Salvini war das kein Grund zum Umdenken. Er bekräftigte am Dienstag die systematische Blockade der NGO-Rettungsschiffe. "Die NGOs werden nie wieder einen italienischen Hafen anlaufen", sagte Salvini. "Die NGO Aquarius haben wir nach Spanien geschickt, die NGO Lifeline nach Malta", schrieb der Innenminister später auf Twitter. Für Frauen und Kinder auf der Flucht vor Krieg seien die Türen offen, "für alle anderen nicht".

Vor Tagen hatten Mittelmeer-Anrainerstaaten um die Landung des Schiffs "Aquarius" einer französischen NGO gestritten. Italien verweigerte die Landung, ausnahmsweise durfte das Schiff mit mehr als 600 Flüchtlingen an Bord im spanischen Valencia anlegen. Demselben Schiff, diesmal allerdings unbeladen, wurde am Dienstag auf der Rückfahrt die Landung auf Malta verweigert. Vorräte laden und die Besatzung wechseln muss die "Aquarius" nun in Marseille.

Die Irrfahrten der NGOs auf dem Mittelmeer häufen sich. Das ist vor allem im Interesse der neuen italienischen Regierung von Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsnationalen Lega um Innenminister Salvini. Italien trug bisher die Hauptlast der Mittelmeer-Flüchtlinge, 600.000 Menschen kamen in den vergangenen Jahren vor allem aus Libyen. Die irrlichternden Flüchtlingsschiffe sollen nun ein Hebel sein, um Europa vor dem EU-Flüchtlingsgipfel am Donnerstag und Freitag zum Umdenken zu zwingen.

"Künstliches Notstandszenario"

Der erste Adressat Italiens ist dabei Frankreich, das an der ligurischen Grenze seit Jahren Migranten abweist und seine Aufnahmeverpflichtungen laut Salvini nicht erfüllt. "Frankreich redet viel, aber bekommt wenig hin", sagte der Innenminister am Dienstag. Die französische Europaministerin Nathalie Loiseau hatte der italienischen Regierung am Montag vorgeworfen, aus politischem Kalkül künstlich ein Notstandszenario geschaffen zu haben. Seit Jahresbeginn landeten bisher nur gut 16.000 Menschen an Italiens Küsten, im Vorjahr waren es insgesamt rund 120.000. Auch insgesamt ging die Zahl der Flüchtlinge über das Mittelmeer zurück. Im ersten Halbjahr 2018 kamen über die drei Mittelmeerrouten 50 430 Migranten, 2017 waren es insgesamt knapp 185 000.

Die NGOs stehen auch deshalb so stark im Fokus der Regierung in Rom, weil sich an ihnen medienwirksam und an die heimischen Wähler gerichtet ein Exempel statuieren lässt. Die Botschaft: Italien wehrt sich endlich gegen unkontrollierte Massenankünfte. Zu diesem Zweck änderte jüngst das für die Küstenwache zuständige Verkehrsministerium drastisch die Notfallprozeduren für Seenotrettungen im Mittelmeer. Seit Beginn der Operation Mare Nostrum im Jahr 2013 wurde die italienische Küstenwache auch bei Notrufen in der libyschen Rettungszone aktiv. Vor Tagen ordnete Verkehrsminister Danilo Toninelli an, dass solche Notrufe an die libysche Küstenwache weitergereicht werden müssen. Diese ist jedoch schlecht ausgerüstet und antwortet nicht auf alle Seenotrufe.

Tragödien vorprogrammiert

Hinter den Kulissen hatte Italien am Montagabend die Landung eines seit Freitag wartenden Frachtschiffes im sizilianischen Hafen Pozzallo mit 108 Migranten gestattet. Auch Boote der italienischen Marine bringen immer wieder hunderte Migranten an Land. Marine und Küstenwache wurden inzwischen angewiesen, weiter von den libyschen Gewässern entfernt zu patrouillieren. Die Überfahrten sollen erschwert werden. Das Risiko einer neuen Flüchtlingstragödie wie in vergangenen Jahren dürfte dadurch steigen.

Offenbar kalkuliert die italienische Regierung aber auch mit diesem Szenario. Ministerpräsident Giuseppe Conte hatte auf dem informellen EU-Gipfel am Sonntag gefordert, über das Mittelmeer ankommende Flüchtlinge müssten sofort auf mehrere EU-Länder verteilt werden. Im Kleinen soll das nun mit dem Kompromiss um die "Lifeline" passieren. "Italien übernimmt seinen Teil und empfängt eine Quote der Migranten", sagte Conte am Dienstag. Er hoffe, dass auch andere europäische Länder gleichziehen. Innenminister Salvini feierte das Ergebnis als weiteren Sieg und kündigte die Beschlagnahme der "Lifeline" an.