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Im Dauer-Ausnahmezustand

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Türkische Opposition fürchtet trotz Ende des Notstands weitere Repressionen.


Ankara. Der Ausnahmezustand ist vorbei - und besteht unter anderen Vorzeichen weiter. In diesem Tenor kommentierten die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien der Türkei die Aufhebung des seit zwei Jahren bestehenden Notstands in der Nacht zum Donnerstag. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte das Ausnahmerecht nach dem Putschversuch im Juli 2016 verfügt, danach sieben Mal um jeweils drei Monate verlängern lassen. Nun sollen die verfassungsmäßigen Rechte der türkischen Bürger wieder gelten - soweit sie nicht durch Gesetze, Präsidialdekrete und andere Maßnahmen eingeschränkt werden.

Tatsächlich unterschied sich die Realität am Donnerstag überhaupt nicht von der Lage zuvor. Gerichte verweigerten die Freilassung des früheren Co-Vorsitzenden der prokurdischen Parlamentspartei HDP, Selahattin Demirtas, und des US-amerikanischen Pastors Andrew Brunson, die beide seit fast zwei Jahren unter haarsträubenden Terrorismusvorwürfen inhaftiert sind. Ein Richter in Ankara verurteilte den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, zu einer Strafe von rund 64.000 Euro wegen angeblicher Beleidigung des Staatspräsidenten. Die bekannteste Gerichtsreporterin der Türkei, Canan Coskun von der Zeitung "Cumhuriyet", wurde zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil sie aus öffentlichen Gerichtsakten zitiert hatte. Die Gerichtsbeschlüsse sind nur eines von vielen Zeichen, dass mit einer innenpolitischen Normalisierung in der Türkei auf absehbare Zeit kaum zu rechnen ist.

Der Ausnahmezustand habe der Vorbereitung des exekutiven Präsidialsystems gedient, kommentierte "Cumhuriyet". "Alle Institutionen des parlamentarischen Systems wurden verletzt." Nun sei Erdogan am Ziel, und da er im neuen System die gesamte Macht des Staates ausübe, bestehe keinerlei Grund mehr für Notstandsgesetze.

Unter dem international scharf kritisierten Ausnahmezustand waren Grundrechte wie die Versammlungs- oder Pressefreiheit eingeschränkt worden; Erdogan konnte per Dekret ohne parlamentarische Absegnung regieren. Viele seiner Notstandsdekrete richteten sich gegen mutmaßliche Anhänger des in den USA im Exil lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, den der Präsident für den Putschversuch verantwortlich machte.

Bis heute sind zahlreiche Umstände und Hintergründe der Ereignisse vom 15. Juli 2016, bei dem mehr als 250 Menschen starben, ungeklärt. Zwar deuten Hinweise auf eine führende Rolle der Gülen-Sekte, doch konnten Dutzende von Gerichtsverfahren und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss nicht klären, wieso die Armeespitze und der Geheimdienst MIT den Staatsstreich trotz rechtzeitiger Information nicht frühzeitig stoppten. Erdogan nannte das Ereignis am Folgetag ein "Geschenk Gottes". Ohne den anschließenden Ausnahmezustand hätte er die angestrebte Präsidialherrschaft wohl kaum erreichen können.

Anti-Terrorgesetze und Präsidialdekrete

Während des Notstands wurden zehntausende Menschen verhaftet oder aus dem Staatsdienst entlassen. Diese Säuberungen halten an. Allein in dieser Woche wurden Haftbefehle für mindestens 63 Soldaten wegen angeblicher Gülen-Verbindungen ausgestellt. Unterdessen regiert Erdogan weiterhin per Dekret, und im Parlament steht die von ihm gesteuerte Mehrheit der konservativen Regierungspartei AKP und deren rechtsextremen Koalitionspartners MHP im Begriff, die Einschränkungen der Bürgerrechte durch ein neues "Antiterrorgesetz" fortzusetzen.

Danach können Verdächtige bis zu zwölf Tage in Polizeigewahrsam kommen, ohne einem Richter vorgeführt zu werden. Die staatlich bestellten Provinzgouverneure behalten einen Großteil ihrer Notstandsvollmachten. Sie können Bürger "aus Sicherheitsgründen" für jeweils 15 Tage in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Firmen und Vereine, die für "terrorverdächtig" erklärt werden, können weiterhin staatlichen Verwaltern unterstellt werden. Das Innenministerium darf die Reisepässe von "Terrorverdächtigen" und deren Ehepartnern wie im Ausnahmezustand ohne weitere Begründung einziehen. Die Entlassung von Staatsbediensteten und Soldaten wird erleichtert. Proteste und Versammlungen im öffentlichen Raum nach Sonnenuntergang brauchen eine Sondergenehmigung.

Laut Entwurf soll das Gesetz nach dem Inkrafttreten zunächst drei Jahre gültig sein. Ohnehin hat Erdogan seit seiner Amtseinführung bereits zahlreiche Präsidialdekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die bisherige Vollmachten des Parlaments und wichtiger Institutionen auf ihn zentrieren. Er entscheidet als Staats- und Regierungschef jetzt allein über die Einsetzung von Ministern, zahlreicher Richter an oberen Gerichten und des Zentralbankvorstands. Er kann das Parlament nach Belieben auflösen.

Damit werde der Ausnahmezustand nicht mehr alle drei Monate, sondern alle drei Jahre verlängert, bemerkte der CHP-Fraktionschef im Parlament, Özgür Özel, sarkastisch.