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Deutschland als "Diktatur"

Von Alexander Dworzak

Politik

Die AfD scheut Kritik am Mob in Chemnitz. Ihr Feind ist das "System BRD", das keine "komplette Demokratie" sei.


Chemnitz/Wien. Die Spitzenpolitiker von Bund und Land rückten aus, um ein Bild zu zerstreuen: dass der deutsche Rechtsstaat vor Rechtsextremen im Osten der Bundesrepublik kapituliert habe. Kanzlerin Angela Merkel verurteilte die Krawalle in Chemnitz: "Was wir gesehen haben, darf in einem Rechtsstaat keinen Platz haben." Ihr Parteikollege, Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer, sagte, der Staat lasse sich das Gewaltmonopol nicht aus der Hand nehmen. Und der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) bot den sächsischen Sicherheitskräften am Dienstag Hilfe an.

Während Bund und Freistaat um Schadensbegrenzung bemüht sind, hat der Fall bereits international Schlagzeilen gemacht. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz nahm Stellung: "Ich bin erschrocken über die neo-nazistischen Ausschreitungen in #Chemnitz."

Dass ein 35-jähriger Deutscher erstochen wurde, instrumentalisieren rechte Gruppierungen seit Tagen im Internet und auf der Straße. Denn tatverdächtig - und in Untersuchungshaft - sind ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22-jähriger Iraker. Aus Spontankundgebungen gegen den Tod von Daniel H. wurden Jagden auf Personen mit scheinbarem Migrationshintergrund. Tags darauf zeigten zehn Personen bei einer Kundgebung den Hitlergruß, später drängte eine große Gruppe Richtung Gegendemonstranten; zehn Personen werden verletzt.

"Bild" spekuliert

Der Fall zeigt, wie schnell sich unseriöse Behauptungen in sozialen Medien verselbstständigen. Gerüchte machen die Runde, wonach der Mord in Zusammenhang mit sexueller Belästigung stehen soll - seit den Silvester-Vorfällen in Köln 2016 ein emotional besonders beladenes Thema. "Er wollte Frauen helfen - Ein Toter bei Messerstecherei nach Stadtfest", schrieb das Boulevardmedium "Bild" laut dem Branchendienst "Meedia" in seine Headline. Dafür sah die sächsische Polizei keinerlei Anhaltspunkte und bat: "Bitte beteiligt euch nicht an Spekulationen." Geteilt wurde der "Bild"-Artikel und ähnliches dann beispielsweise von den Facebook-Seiten "Viktor Orban Fanclub", "Politisches Chaos in Deutschland und Europa" und "Politikversagen".

Hooligans springen auf

"Kaotik Chemnitz" rief daraufhin zu einer "Spontandemo" gegen Gewalt" auf, der 50 Gewaltbereite unter den 800 Teilnehmern folgen sollten. Bei den selbst ernannten Chaoten handelt es sich um eine rechtsextremistische Hooligangruppierung aus dem Umfeld des Fußball-Regionalligisten Chemnitzer FC, so das Urteil von Sachsens Verfassungsschutz. Dessen Leiter Gordian Meyer-Plath sagt der "Rheinischen Post", diese Szene sei wiederholt an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Personen mit Migrationshintergrund beteiligt gewesen.

Gerade dass es sich um einschlägig bekannte Gruppierungen handelte, lässt Sachsens Polizei schlecht aussehen. Sie steht im Verdacht, das Eskalationspotenzial von Anfang an unterschätzt zu haben. Ein Polizeisprecher räumte nach den beiden Demonstrationen am Montag Personalmangel in den eigenen Reihen ein. 600 Beamte waren es, 6000 Personen folgten dem Aufruf der rechtspopulistischen "Pro Chemnitz", 1500 schlossen sich der Linkspartei-Demo an. Die Gewerkschaft der Polizei kritisiert den Abbau von deutschlandweit 16.000 Stellen in der Exekutive.

Der Mord an Daniel H. - er war seinen Facebook-Likes zufolge ein Linker - ist wieder Wasser auf die Mühlen der Kritiker von Angela Merkel. Und zwar auch außerhalb der AfD: "Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ‚Wir schaffen das‘ von Kanzlerin Angela Merkel", sagte Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP). Ähnlich äußerte sich auch die sozialdemokratische Integrationsministerin Sachsens, Petra Köpping.

Die AfD setzt nach

Die AfD redet derweil Selbstjustiz das Wort. Ihr sächsischer Landesverband erwähnt in einer Pressemeldung die Ausschreitungen mit keinem Wort und sieht lediglich friedliche Demonstrationen. Diese könne man "mehr als verstehen". Bürger seien "Schlachtvieh einer gescheiterten Asyl-Politik". Die Fraktionschefs im Bundestag, Alice Weidel und Alexander Gauland, sehen lediglich "vermeintliche" Hetzjagden. Thorsten Weiß, AfD-Vorstandsmitglied in Berlin, meint mit Verweis auf Italien, im Justizsystem werde die Partei "später aufräumen müssen".

Es sind Töne aus einer Partei, die den demokratischen Kern der Bundesrepublik aushöhlen will - und gleichzeitig propagiert, in Deutschland "muss die komplette Demokratie erst wiederhergestellt werden". Das behauptet Mario Beger, Pressesprecher des sächsischen AfD-Kreisverbandes Meißen in einer Meldung, die 50 Jahre Prager Frühling "Gedenken und Parallelen zur Gegenwart" entgegenstellt. "Wir wollen das derzeitige ‚System BRD‘ überwinden", schreibt Beger. Er setzt die amtierende deutsche Bundesregierung mit einer Diktatur gleich: "Es gibt eben keine Diktatur mit menschlichem ‚Antlitz‘, auch - oder besonders nicht bei Union und SPD!" Begers Gedanken finden sich nicht versteckt, sondern auf der Startseite der AfD-Sachsen unter den Top-Meldungen.

Zu Hilfe kommen der AfD Medien, die im Fall Daniel H. unseriöse und ungeprüfte Meldungen verbreiten. "Bild" hat seinen Artikel zwar adaptiert: "Zuvor hieß es am Tatort, dass eine Frau belästigt wurde, ihr die Männer zu Hilfe kamen. Dies konnte die Polizei aber nicht bestätigen." Doch noch immer enthält die Webadresse den Textteil: "er-wollte-frauen-helfen-ein-toter".