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Bloß keine Konkurrenz

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Vier systemkonforme Kandidaten treten in Moskau gegen Bürgermeister Sergej Sobjanin an.


Moskau. Es gab eine Zeit, als die Moskauer den Gorki-Park mieden. Mit den Schlaglöchern, den baufälligen Resten eines noch unter Stalin eröffneten Vergnügungsparks und schäbigen Verkaufsbuden galt er lange als Symbol des postsowjetischen Verfalls. Doch inzwischen rollen junge Moskauer auf Inlineskates über die Uferpromenade, schlürfen ihren Skinny Latte Macchiato auf den Parkbänken oder kreisen in Tretbooten auf dem kleinen Baggerteich. Kulturliebhaber flanieren durch die "Garage", ein vom niederländischen Stararchitekten Rem Kohlhaas entworfenes Zentrum für zeitgenössische Kunst, am Abend wummert der Bass über den perfekt getrimmten Rasen und die bunten Blumenbeete.

Vom Schandfleck zum neuen Hipster-Treff: Fast ist es so, als wehe wieder ein "Wind of Change" durch den Park am rechten Ufer der Moskwa, wie ihn schon die deutschen Soft-Rocker Scorpions 1990 besungen hatten. Hipper, sportlicher, sicherer und grüner ist die russische Metropole mit den zwölf Millionen Einwohnern in den vergangenen Jahren geworden - so wollen es zumindest die vielen Wahlplakate glauben machen, die wenige Tage vor den Bürgermeisterwahlen die Straßen der russischen Hauptstadt säumen. Am Sonntag wird in Moskau gewählt, landesweit finden in Russland eine ganze Reihe von Wahlen statt, wie etwa Gouverneurswahlen in 21 Verwaltungsbezirken und Kommunalwahlen.

Der kremltreue Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin muss nicht um seine Wiederwahl zittern - was freilich daran liegt, dass schon im Vorfeld alle Oppositionskandidaten ausgesiebt worden sind. Das Wahlgesetz schreibt den Kandidaten vor, eine Mindestanzahl an Unterschriften von lokalen Abgeordneten zu sammeln, unter denen die Kreml-Partei "Einiges Russland" den Ton angibt. Eine Hürde, an der die bekanntesten Gegenkandidaten Dmitrij Gudkow und Ilja Jaschin gescheitert sind. Vier systemkonforme Kandidaten treten am Sonntag gegen Sobjanin an. Laut dem staatlichen Umfrageinstitut Wziom könnte Sobjanin auf 65 Prozent der Stimmen kommen.

Orte für die Mittelklasse

So fühlt sich der Wahlkampf weniger nach politischem Wettbewerb denn einer gut geölten PR-Maschine an, in dem es mehr darum geht, die Moskauer an die Urne zu locken, um zumindest eine passable Wahlbeteiligung zu erreichen und den Urnengang zu legitimieren. Fahrradbrigaden radeln mit Jubel-Fahnen ("Sobjanin ist mein Bürgermeister!") durch die Stadt. Auf den Bildschirmen in der Metro wird für das Freizeitprogramm in den neu renovierten Parks geworben. In sozialen Medien wird unter dem Hashtag #zaSobjanina seit Wochen für den 60-jährigen "City-Manager" Stimmung gemacht.

Auch im Wahlkampfstab, in einem großzügig verglasten "Digital Business Hub" am Moskauer Gartenring, werden die Errungenschaften der Sobjanin’schen Stadtpolitik durchdekliniert. Fast 11.000 Volontäre sollen dafür sorgen, die Kunde von der schönen, neuen Lebensqualität Moskaus unter das Wahlvolk zu bringen. Auf einer Uhr wird der Countdown bis zum Wahltag heruntergezählt, junge Volontäre fläzen sich auf bunten Sitzsäcken und tippen in ihre Laptops. Wie Jekaterina Korschunowa. "Wenn ich das Moskau von heute mit dem Moskau meiner Jugend vergleiche, dann ist das hundert zu eins", sagt die 26-jährige PR-Expertin. "Moskau ist sauberer, sicherer und interessanter geworden." Dem 20-jährigen Studenten Alexander Klimow kommt als erstes der Moskauer Zentrale Ring (MZK) in den Sinn, eine neue Zugstrecke, die seit 2016 die äußeren Moskauer Metrostationen miteinander verbindet. "Das hat das Leben von Millionen Moskauern verbessert", sagt er. "Ich selbst bin dadurch 20 Minuten schneller auf der Uni."

Dabei schien es zuletzt fast so, als würde dem Kreml gerade in den liberal geprägten Megastädten politisch die Felle davonschwimmen. Sobjanin, der eigentlich aus einem westsibirischen Dorf stammt und sich in der Regionalverwaltung und später als Leiter der Präsidialadministration (2005 bis 2008) und als Vize-Premier (2008 bis 2010) seine politischen Sporen verdient hatte, übernahm 2010 von Juri Luschkow das Bürgermeisteramt. Wenig später, im Protestwinter 2011/2012, gingen tausende Moskauer gegen Wahlfälschungen und die Wiederwahl Wladimir Putins auf die Straße. Bei der bisher letzten Bürgermeisterwahl 2013 kam der Oppositionelle Alexej Nawalny aus dem Stand auf 27 Prozent, Sobjanin schrammte mit 51 Prozent nur knapp an einem zweiten Wahlgang vorbei.

Neben der Krim-Annexion 2014 sei es aber auch gerade die Stadtentwicklung, mit der der Kreml versucht habe, eine Antwort auf die Proteste zu finden, glaubt indes der Schriftsteller Sergej Lebedew. Nach den Winterprotesten habe der Kreml beschlossen, "moderne Orte in Moskau für die kreative Mittelklasse und die jungen Protestierenden zu schaffen." Gerade der Gorki-Park wurde zu einer Art Versuchslabor für den neuen Moskauer Urbanismus - Yoga-Kurse, gratis WLAN und Fahrradwege inklusive. Später wurde Sergej Kapkow, der als Direktor maßgeblich den Park umgestaltet hatte, sogar zum Moskauer Kulturminister ("Hipster-Minister") ernannt. "Das Gorki-Park-Konzept wurde ausgeweitet, um den öffentlichen Raum zu verwestlichen", sagt Lebedew.

Das hat dazu geführt, dass Moskau unter Sobjanin immer europäischer geworden ist - zumindest äußerlich - vom Ausbau des öffentlichen Verkehrs über Open-Air-Festivals bis hin zu Fahrradwegen. Doch hinter der schönen PR-Fassade wird noch nach den alten Regeln gespielt. Rigide Versammlungsgesetze sorgen dafür, dass sich die neu gepflasterten Fußgängerzonen und schicken Designer-Parks erst gar nicht mit unliebsamen Protesten füllen. "Sobjanin verfolgt eine Vision, die eine Ästhetik des westlichen ‚neuen Urbanismus‘ realisiert, während sie aber zugleich die demokratischen Prinzipien ablehnt, die diese üblicherweise begleiten", schreibt "Foreign Policy" in einem Beitrag. "Öffentliche Plätze können sich sogar in Diktaturen angenehm anfühlen", wird dort der Moskauer Stadtplaner Alexej Muratow zitiert. "Immerhin sind auch in Singapur die Straßen schön."

Dass schöne Parks alleine aber nicht die politische Partizipation ersetzen können, zeigte sich erst im Vorjahr. Alte sowjetische Wohnhäuser sollten abgerissen und durch moderne Appartementblocks ersetzt werden. Was unter dem Titel "renowazija" ("Renovierung") als Wahlgeschenk vor den Bürgermeisterwahlen angekündigt - und nebenbei als lukratives Großprojekt für die Bauindustrie gedacht - war, geriet zum PR-Debakel. Tausende Moskauer liefen gegen die Pläne Sturm, ihre lieb gewonnen "Chruschtschowki" plattzumachen, und mobilisierten sich in den größten Straßenprotesten seit dem Winter 2011/2012. Wohl mit ein Grund, warum dem Kreml die Lust auf wirkliche Gegenkandidaten - noch anders als bei der Bürgermeisterwahl 2013 - vergangen sein dürfte. "Das System hat sogar Angst davor, eine Imitation von Konkurrenz zuzulassen", sagt die Politologin Jekaterina Schulmann.

Protest durch Abwesenheit

Zugleich finden am Sonntag im ganzen Land Proteste gegen die geplante Pensionsreform statt, die das Pensionsantrittsalter der Russen von 60 auf 65 (Männer) und von 55 auf 60 (Frauen) anheben soll. Umfragen zufolge lehnen 90 Prozent der Russen die Reform ab, immer wieder kommt es zu Protesten. Gerade für diesen Wahlsonntag hat Nawalny, der zuletzt für 30 Tage inhaftiert wurde, wieder zu Demonstrationen aufgerufen.

À la longue könnte die politische PR-Show somit zum Pyrrhussieg für den Kreml werden, glaubt indes der Oppositionelle Wladimir Kara-Murza. Immerhin gäbe es immer mehr Russen, die sich schlichtweg nicht mehr durch die Wahlen vertreten fühlten. Bei der Präsidentschaftswahl im März blieben den Wahlurnen knapp 40 Prozent der Moskauer fern. "So schön die offiziellen Zahlen auch sein werden - sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hunderttausende Moskauer von der alternativlosen Politik entfremdet haben", schreibt er in einem düsteren Beitrag für die "Washington Post". "Wo es keine Wahl gibt, werden irgendwann wieder Barrikaden stehen."