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Sehnsucht nach dem "Volksheim"

Von Alexander Dworzak

Politik

Bei der Parlamentswahl steht ein deutlicher Rechtsruck bevor: Die Schwedendemokraten könnten rund 20 Prozent der Stimmen holen.


Stockholm/Wien. Jedes Kind in Favoriten kennt Per Albin Hansson. Zumeist aufgrund der Siedlung im 10. Wiener Bezirk, die seinen Namen trägt. Mit der Benennung bedankte sich die Stadtverwaltung für die Hilfsleistungen Schwedens an Wiens Bürger nach dem Zweiten Weltkrieg, die Hansson angestoßen hatte.

Nahezu unbekannt ist hierzulande hingegen, welch prägende politische Figur Hansson in seiner Heimat war. Das zeigt bereits seine Amtszeit, mit nur dreimonatiger Unterbrechung amtierte der Sozialdemokrat von 1932 bis zu seinem Tod 1946 als Ministerpräsident. Hansson ist Symbol für den schwedischen Wohlfahrtsstaat. Den Grundstein legte er mit einer Rede 1928, in der er das "Volksheim" (folkhemmet) propagierte: Gleichheit, Rücksicht, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft galten ihm als Hauptregeln eines guten Heimes. Übertragen auf das Heim der Nation sollten die sozialen Barrieren verschwinden.

Die Erzählung vom Volksheim war ursprünglich bäuerlich-konservativ geprägt, sie kam Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Hansson gab ihr einen sozialdemokratischen Anstrich. Heute nehmen die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) den Begriff für sich in Anspruch. "Das moderne Volksheim" heißt ein Wahlkampfbüchlein ihres Spitzenkandidaten Jimmie Akesson anlässlich der Parlamentswahl am Sonntag. Bei rund 20 Prozent sehen Demoskopen die von dem 38-Jährigen geführte SD, manche meinen, die Partei könnte gar den Sozialdemokraten gefährlich nahe kommen. Der Linken laufen die Wähler davon, und die SD schickt sich an, auch die sozialdemokratische Identität zu kapern.

Restriktive Asylpolitik bleibt

Entscheidend dazu hat die Flüchtlings- und Asylpolitik beigetragen. "Bis 2015 war die Bevölkerung für eine liberale Migrationspolitik offen", sagt Tobias Etzold, Nordeuropa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zur "Wiener Zeitung". Doch 2015 kamen 163.000 Personen ins Land, gemessen an der Einwohnerzahl so viele wie in keinem anderen EU-Staat. Schweden stieß an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit, die rot-grüne Minderheitsregierung unter Stefan Löfven verabschiedete sich vom liberalen Kurs - den zuvor auch konservative Regierungen vertreten hatten.

"Die Sozialdemokraten und vor allem die Grünen wollten den Kurswechsel nicht, aber der Druck der Schwedendemokraten und der Öffentlichkeit war zu groß", erklärt Etzold. Anerkannte Flüchtlinge erhalten seit 2016 statt unbefristeter nur noch eine dreijährige Aufenthaltsbewilligung. Die Regeln für den Familiennachzug wurden verschärft sowie Geldleistungen und Unterbringen bei abgelehnten Asylwerbern gestrichen, sofern diese keine minderjährigen Kinder haben. Die Asylanträge fielen rapide, auch aufgrund des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals und der Schließung der Balkanroute; von Jänner bis August 2018 waren es 14.000.

Migration bleibt dennoch das dominierende Thema. Die Sozialdemokraten und die drittgrößte Partei, die konservativen Moderaten, betonen, sie wollen die strikte Linie auch künftig beibehalten. Doch die Schwedendemokraten sind ihnen wieder einen Schritt voraus: Sie verknüpfen im Wahlkampf das Migrationsthema mit zwei anderen drängenden Fragen: dem Fehlen innerer Sicherheit, etwa Bandenkriminalität in Problemvierteln am Rande der Städte. Und Problemen im Wohlfahrtsstaat. In Arztpraxen herrschen lange Wartezeiten, auf dem Land bestehen Versorgungslücken, sogar in Städten müssen Bürger lange auf eine Operation waren. Die Lösung der Schwedendemokraten: Sie wollen in den Wohlfahrtstaat investieren. Und dafür bei Flüchtlingsintegration sparen.

Faktisch ist das gut begründbar, Schweden benötigt qualifizierte Zuwanderer. Und das sind in vielen Fällen nicht Flüchtlinge, die teils Jahre brauchen, bis sie diese nötigen Kompetenzen erwerben. Selbst in der Industrie gibt es ohne IT- und Sprachkenntnisse keine Jobs. Flüchtlinge sind daher auf die Hilfe des Staates angewiesen.

Anders als in den deutschsprachigen Ländern wurden Sozialleistungen in Schweden zu "Bürgerrechten, vergleichbar mit der Meinungsfreiheit, dem Wahlrecht", schreibt der Skandinavist Bernd Henningsen. Auch wenn infolge der Krise in den 1990ern der Wohlfahrtstaat erodiert ist, gilt noch immer das Prinzip hohe Steuern gegen ein kostenloses Gesundheitssystem und kostenlose Ausbildung. "Das System beruht darauf, dass alle viel vom Wohlfahrtstaat erhalten, weil sie bereit sind, viel für diesen zu leisten", analysiert SWP-Forscher Etzold. "Die Schwedendemokraten unterstellen Asylwerbern, sie seien dazu nicht bereit oder willig. Sie nähmen den Wohlfahrtstaat aus, ohne etwas zu leisten. Gemeint sind zuallererst Muslime."

Mit der ethnischen Aufladung verschieben die Schwedendemokraten die Grenzen, wer Teil des Volksheimes sein kann. Die Linke verstand Volksgemeinschaft als zivilgesellschaftliches Modell. Von einem "demokratischen Nationalismus" sprach Lars Trägardh kürzlich bei einem Vortrag für das "Forum für Journalismus und Medien". Dieses Konzept habe den Aufstieg rechtsextremer Parteien in Schweden in den 1930ern verhindert, so der Historiker.

Im Zweiten Weltkrieg war Schweden Zufluchtsort für 180.000 Flüchtlinge, sie kamen primär aus Dänemark, Norwegen, Finnland, Estland und Deutschland. Die Integration der Gebliebenen gelang problemlos. Doch bereits bei der Anwerbung von Arbeitsmigranten ab den 1960ern - unter anderem aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien - scheiterte das Volksheim. Anders als in Österreich sollten es nicht Gastarbeiter sein, die in ihre Heimat geschickt werden, sondern neue Staatsbürger. Doch sie fanden keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft und landeten oft in den heute verrufenen Vorstadtsiedlungen.

Konsens des Schweigens

Warum wurden Integrationsprobleme tabuisiert? "Schweden ist stark auf politischen und gesellschaftlichen Konsens der Mitte ausgerichtet. Deswegen funktionieren lange Zeit auch die Minderheitsregierungen. Und nicht über die Probleme zu sprechen, war lange Konsens", sagt Tobias Etzold.

Nun bildet sich der neue Konsens einer restriktiveren Asylpolitik. Lars Trägardh sieht darin eine Chance, auch über falsch verstandene Toleranz zu debattieren. Während die sozialdemokratische Spitze noch zögere, stießen insbesondere Migranten in der Partei das Thema an. Die Schweden müssten einsehen, eine Kultur zu sein, und zwar eine, die nicht zuletzt auf einer starken Sozialpolitik beruhe, sagte Andreas Johansson Heinö vom Thinktank Timbro der "Zeit". Noch ist das Volksheim stark zivilgesellschaftlich geprägt: In einer Umfrage 2017 (Mehrfachnennungen möglich), meinten nur 25 Prozent, man müsse im Land geboren sein, um schwedisch zu sein. 95 Prozent sahen in Rechtsstaatlichkeit einen "schwedischen Wert".