Das hört sich fast so an, als seien vor allem die Konservativen die Hauptschuldigen für die Loslösungswünsche vieler Katalanen.

Natürlich nicht. Aber viele Katalanen fühlen sich nicht repräsentiert, wenn die Konservativen Spanien regieren. In Katalonien spielt die Volkspartei kaum eine politische Rolle. Aber ihre Art und Weise, den katalanischen Unabhängigkeitsprozess in Gerichtssälen und mit Polizeieinsätzen zu stoppen, provozierte selbst bei vielen Katalanen, die nicht für die Loslösung sind, den Wunsch nach dem Selbstbestimmungsrecht. Seit 2009 gab es immer wieder Proteste für das Selbstbestimmungsrecht. Seit 2012 handelt es sich jedoch um riesige Massenproteste für die Unabhängigkeit. Und es kam zu einem qualitativen Sprung. Die Politik verbündete sich mit dem Volk, um gemeinsam dieses Ziel zu erreichen.

Wie kam es dazu?

Es war katalanische Regionalpräsident Artur Mas, der die damalige Wirtschaftskrise nutzte und versprach, das eigentlich wirtschaftsstarke Katalonien werde ohne Spanien und den unfairen Länderfinanzausgleich viel schneller aus der Wirtschaftskrise zu kommen. Mas war allerdings nicht Separatist von Anfang an, dazu wurde er erst im Laufe der Jahre. Mas war ein gemäßigter Nationalist, der vor allem die Möglichkeit sah, mehr Autonomierechte und mehr Steuerhoheiten mit Madrid aushandeln zu können. Er stellte sich vor die Unabhängigkeitsbewegung, vereinte die Politik und Bürger und machte die Bewegung dadurch erst so stark. Während in Spanien der Frust über die Krise die linken Populisten Podemos und die Empörten-Bewegung entstehen ließ, kanalisierte er sich in Katalonien in der Unabhängigkeitsbewegung. Der perfekte Sturm.

Der Weg ist aber ins Stocken geraten. Zeigt die Unabhängigkeitsbewegung keine Müdigkeitserscheinungen?

Keineswegs. Das hat man zuletzt am 11. September, am katalanischen Nationalfeiertag, gesehen, als über eine Million Menschen in Barcelona für die Unabhängigkeit protestierten. Die Unabhängigkeit zu erreichen, ist für viele ein Lebenstraum. Es sind aber vor allem die sogenannten politischen Gefangenen, welche die Unabhängigkeitsbewegung überhaupt in dieser Form und Stärke am Leben erhalten. Sollten die inhaftieren Mitglieder der damaligen Regionalregierung und die Vorsitzenden der separatistischen Bürgerplattformen demnächst wirklich wegen der Durchführung des Referendums und der Ausrufung der Republik verurteilt werden, dürfte es knallen.

Bisher knallt es aber nicht. Auch der "heiße Herbst", den die sogenannten "Komitees zur Verteidigung der Republik" mit Straßensperren und Massenprotesten versprachen, fand bisher nicht statt.

Es kam in den vergangenen Wochen bereits häufig zu kleineren Protestmärschen und Veranstaltungen. Ich gehe aber davon aus, dass dieser heiße Herbst erst richtig im Oktober starten wird. Am 1. Oktober, am Jahrestag des Unabhängigkeitsreferendums, sind alle Bürger aufgerufen, sich vor den Schulen und Orten zu versammeln, wo sie vor einem Jahr abstimmten. Am 3.Oktober sollen ebenfalls Proteste stattfinden. An jenem Tag verurteilte vor einem Jahr König Felipe das Unabhängigkeitsreferendum in einer Fernsehansprache und empörte damit viele Katalanen, die zudem enttäuscht waren, dass er als König nicht seine verfassungsrechtliche Rolle als Vermittler im Katalonien-Konflikt übernahm. Am 27.Oktober ist dann der Jahrestag der Ausrufung der Republik. Es wird viele Proteste geben. Auch Gegenproteste der Unabhängigkeitsgegner, der sogenannten schweigenden Mehrheit, die seit einem Jahr nicht mehr schweigt. Damit steigen die gesellschaftlichen Spannungen in Katalonien. Ich glaube und hoffe aber nicht, dass wir Ausschreitungen oder wie damals gewalttätige Polizeieinsätze sehen werden. Tatsächlich ist bisher aber noch nicht viel passiert. Das liegt auch daran, dass die separatistischen Parteien untereinander streiten, in welche Richtung es gehen soll.