Zum Hauptinhalt springen

"Bosnien vegetiert so dahin"

Von Christopher Erben

Politik

Die bevorstehenden Wahlen in Bosnien-Herzegowina spiegeln die ethnische Zerrissenheit des Landes wider.


"Wiener Zeitung": Am 7 . Oktober wählen die Bosnier ein neues Staatspräsidium sowie die Parlamente in den zwei Landesteilen, der Föderation Bosnien-Herzegowina und der Republika Srpska. Beobachter gehen von einem erneuten Sieg der ethnischen Parteien aus. Teilen Sie diese Einschätzung?

Vedran Dzihic: Es ist gar nicht so leicht, Prognosen abzugeben, da es keine zuverlässigen und unabhängigen Meinungsumfragen gibt. Ich erwarte mir zumindest in der Föderation, dass diesmal die multiethnischen Parteien etwas besser abschneiden als zuletzt. Über Bord geworfen wird mit den Wahlen jedoch nicht das alte Politiksystem, das auf ethnonationalen Kriterien basiert und das mittlerweile zu einem fixen Bestandteil des Landes geworden ist.

Verläuft der Wahlkampf bisher fair und ohne Untergriffe?

Untergriffe kommen in jedem Wahlkampf vor - auch in Bosnien. Ja, es gibt Berichte über Wahlmanipulationen und Unregelmäßigkeiten bei der Erstellung der Wählerlisten. Auch wurden Identitäten von Auslandsbosniern gestohlen. Das Ausmaß ist noch nicht absehbar. Die Zentrale Wahlkommission ist zwar formell unabhängig, sie wird aber politisch kontrolliert und paritätisch besetzt.

Welche Themen dominieren den Wahlkampf?

Allen ethnischen Parteien gemeinsam ist das Schüren von Ängsten vor der anderen Volksgruppe. Auch die eigene Stärke wird immer wieder betont. Der Wahlkampf ist aber auch ziemlich inhaltsleer - es geht mehr um Sympathie und Persönlichkeiten, und um einfache Slogans. Doch auch sozioökonomische Fragen wie etwa die hohe Arbeitslosigkeit und massive Abwanderung werden thematisiert.

Weshalb gelingt es den gemäßigten oder multiethnischen Parteien in Bosnien kaum, Fuß zu fassen?

Die Verfassung und das politische System des Landes machen es den multiethnischen Parteien nicht gerade leicht, politisch erfolgreich zu sein. Diese lassen aber nicht locker und kämpfen für die Überwindung des ethnonationalen Prinzips und für ein normaleres Bosnien.

Der Vertrag von Dayton beendete 1995 den Bürgerkrieg. Das Land ist weiterhin ethnisch geteilt und gesellschaftlich tief gespalten. Was müsste sich ändern, um die Gesellschaft wieder zu einen?

Das Abkommen hat den Krieg zwar beendet, aber keinen Rahmen für einen funktionalen Staat geschaffen. Das ethnische Prinzip, das in der gleichnamigen Verfassung verankert ist, ermöglicht keine Konsensbildung und führt eher zu einer ethnischen Konkurrenzhaltung, die das politische System blockiert. Die Daytoner Verfassung müsste man zugunsten eines bürgerlichen Prinzips verändern. Das ist derzeit unrealistisch, da viele vor allem ethnische Parteien im Land von der derzeitigen Situation profitieren.

Man gewinnt den Eindruck, dass die Politiker der einen Volksgruppe der jeweils anderen Nationalismus vorwerfen. Lenken Sie damit von den eigenen Problemen ab?

Es gibt wenig Anreize, die einen politischen Wettbewerb jenseits des Ethnischen ermöglichen. Deswegen setzen die großen Parteien weiterhin auf die ethnonationale Karte. Es gibt zwei wesentliche Prinzipien dabei: Das eine ist die Trennung zwischen wir und den anderen; das zweite ist das Schüren der Angst davor, dass die andere Volksgruppe der eigenen etwas wegnehmen könnte. Mit dieser Bedrohung erzeugt man ein Klima der Angst, der Anspannung und der Unsicherheit unter den Menschen, die sich bei den Wahlen wieder für jene Parteien entscheiden, die vorgeben, ihre Nation zu schützen. Es ist ein ethnischer Teufelskreis, der die Weiterentwicklung des Staates lähmt.

Gab es trotzdem zaghafte Schritte zu Verfassungsänderungen?

Ja, in den 2000er Jahren gab es einige kosmetische Korrekturen an der Verfassung, um das ethnische Prinzip aufzuweichen und einen funktionierenden Gesamtstaat zu schaffen. Diese Entwicklung wurde im Jahre 2004 gestoppt. Zu einer umfassenden Verfassungsänderung kam es danach nicht mehr. Serbische Nationalisten fordern wiederholt, dass diese Änderungen rückgängig gemacht werden und der Gesamtstaat wieder Kompetenzen an die Entitäten zurückgibt.

Fährt man durch die Herzegowina, weht an vielen Häusern die kroatische Fahne. Ist das mehr als ein Bekenntnis zum Kroatentum? Fordert die kroatische als zahlenmäßig kleinste Volksgruppe tatsächlich den Anschluss des Landesteils an Kroatien?

Es gibt eine sehr starke vor allem von der bosnischen HDZ gepflegte Hinwendung zum Kroatentum und zu einem konservativen, nationalen Kurs, den diese Partei verkörpert. Die meisten bosnische Kroaten besitzen auch die kroatische Staatsbürgerschaft. Sie dürfen daher in Kroatien wählen und stimmen bei Wahlen auch mehrheitlich für die kroatische HDZ. Die kroatische Volksgruppe verlangt in Bosnien immer mehr Rechte - etwa einen eigenen Fernsehkanal oder die Verankerung der Sprache. Offiziell ist der Anschluss an Kroatien nicht auf dem Tisch, weil man weiß, dass man das nicht öffentlich verlangen darf.

Eine gemeinsame Aufarbeitung der jüngsten Geschichte und die Sicht darauf unterbleibt bis heute. Warum schafft es das Land bis heute nicht, aus den negativen Erfahrungen des Krieges zu lernen und die Zukunft gemeinsam zu gestalten?

Das ausschließende Narrativ ist in den Volksgruppen besonders stark verankert. Jede Volksgruppe erzählt eine eigene Version vom Krieg. Bei Beendigung des Krieges und durch Dayton wurden die ethnischen Säuberungen bestätigt. Heute kann man sagen, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht erfolgte und die Wunden der Kriegszeit nicht geheilt wurden. Durch Erzählungen und im Schulunterricht werden alte, einander ausschließende Narrative weitererzählt. Viele Menschen sind schon sehr müde von dieser Entwicklung. Sie erkennen, dass die wirtschaftlichen Probleme alle treffen und zunehmend junge Menschen das Land verlassen. Dennoch finde ich, dass Bosnien ein intaktes soziales Kapital besitzt, das in der Lage wäre, auch die ethnischen Grenzen zu überschreiten.

Der Krieg wird seit Dayton mit rhetorischen Mitteln fortgesetzt. Besteht nicht die Gefahr, dass der Konflikt wieder aufflammt, wenn die Eufor abzieht?

Nein, derzeit besteht in Bosnien keine Gefahr, dass erneut ein Krieg ausbricht. Dafür gibt es kein großes militärisches Potenzial. Auch die Nachbarstaaten würden sich nicht wie damals einmischen. Die de facto politische Blockade ist aber wie ein Todesurteil für eine funktionsfähige Gesellschaft. Bosnien vegetiert so dahin. Es entwickelt sich weder weiter, noch löst es sich in Chaos und in Richtung eines Krieges auf. Das Land und die Gesellschaft befinden sich in einem Dämmerzustand. Dennoch - kleinere lokal begrenzte Konflikte oder Zwischenfälle können nie ausgeschlossen werden.

Mit Spannung wird der Ausgang der Wahlen in der Republika Srpska beobachtet. Kann es auch hier zu Überraschungen kommen?

Milorad Dodik (der Präsident der Republika Srpska, Anm.) könnte bei dieser Wahl verlieren. Auch wenn er es diesmal schaffen sollte, wird er in vier Jahren vermutlich nicht mehr kandidieren. Er spielt mit Spannungen und mit einem Referendum, das es nie geben wird; aber er mobilisiert damit geschickt die Bevölkerung. Damit erzeugt er einen permanenten Krisenzustand, der von ihm politisch wie rhetorisch am Köcheln gehalten wird.

Von Valentin Inzko hört man in letzter Zeit wenig. Hat er an Macht und an Einfluss auf die Politik verloren?

Das Amt ist vorhanden. Die Kompetenzen sind auf dem Papier dieselben. Innenpolitisch hat Valentin Inzko aber seit mehr als zehn Jahren keine Bedeutung. Er kann keine Entscheidungen mehr fällen - ohne Zustimmung der internationalen Gemeinschaft. Hier besteht aber unter den großen Staaten wie USA, Russland und der Türkei Uneinigkeit, was in Bosnien geschehen oder was sich verändern soll. Das OHR (Amt des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Anm.) ist realpolitisch im Wachkoma. Valentin Inzko könnte der letzte Amtsinhaber sein.

Bosnien-Herzegowina möchte der EU beitreten. Wann wird es so weit sein?

Das Jahr 2025 stand für einige Staaten in der Region als Beitrittsdatum im Raum. Dieses Jahr scheint aber für Bosnien nicht realistisch - eher 2030 oder noch später. Bosnien arbeitet sich gerade an einem Fragebogen der EU ab, dessen Beantwortung Voraussetzung für den nächsten Schritt ist. Jeder Integrationsschritt dauert aber elendslang. Die EU spielt auf Zeit, möchte keine Entscheidung treffen. Es herrscht Stillstand. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr sinkt die Zustimmung der Bevölkerung zur Europäischen Union.

Zur Person

Vedran Dzihic ist gebürtiger Bosnier und setzt sich als Politikwissenschafter am Österreichischen Institut für Internationale Politik mit den Entwicklungen am Westbalkan auseinander.