Zum Hauptinhalt springen

Die verhexte Goldgrube

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

Der Gardasee war einst ein Ort von Nymphen, Feen und anderen Fabelwesen. Heute bevölkern ihn hauptsächlich Touristen. Der See ist an seine Grenzen gekommen.


Lazise. Vom Traum zum Albtraum ist es manchmal nur ein Katzensprung. Die Staatsstraße am Westufer des Gardasees ist eine der schönsten Strecken Europas. Steil fallen die schroffen Kalkfelsen in das bläulich schimmernde Wasser ab, die grüne Macchia-Vegetation verleiht der Szene mediterranes Flair. Hier, knapp über dem See und gar nicht weit vom Himmel, scheint das Leben besonders lebenswert. Besonders zwischen Juni und September allerdings hat schon mancher Tourist diesen wunderbaren und in ein paar Stunden Autofahrt erreichbaren Flecken Paradies verflucht. Stundenlange Staus gehören heute zum Gardaseegefühl genauso wie der kühle Spritz am Seeufer.

Der Oktober ist also ein Zeitpunkt, zu dem man mit ein wenig Abstand auf den sommerlichen Ansturm zurückblicken und eine eher ungewöhnliche Perspektive auf den See riskieren kann. Die Straßenschilder auf der Westumfahrung etwa weisen schon auf einen Kosmos hin, den heute kaum jemand mehr ernst zu nehmen gewillt ist. Die Namen der Tunnels sind fast durchgängig mythischen Gestalten und Fabelwesen gewidmet, die den See früher fest im Griff hatten, bevor sich der Gott des Trubels und Geschäfts seiner Anwohner bemächtigte.

Von Sirenen, Nymphen, Zwergen und Giganten ist auf den Schildern die Rede. Garda selbst soll eine Nymphe gewesen sein. Anlässlich ihrer Vermählung mit Sarca, dem Gott des gleichnamigen Flusses, ließen ihr Vater Benaco und der Freier ihre Gewässer zu einem See zusammenfließen, dem sie den Namen Garda gaben.

Hunde bellen, Autos und Passanten sind sich im Weg

Es gibt Menschen, die die Welt der Geister und Feen am Gardesee durchaus ernst nehmen. Zur Sommersonnenwende wird jährlich am Ostufer des Sees ein Festival der Feen abgehalten, in Iseo am Nachbarsee findet im Mai ein Hexenfest statt. Simona Cremonini aus Manerba ist meist mit von der Partie. Die 39-Jährige schreibt derzeit nicht nur am dritten Band einer am Gardasee beheimateten Fantasy-Romanreihe. Die Autorin hat Mythen und Legenden um den See gesammelt und etwa in einem bislang nur auf Italienisch erschienenen Band namens "Fantastischer Garda" vorgelegt.

Cremonini sitzt in einer Bar in Sirmione am Südufer und erzählt zum Beispiel von den "Eguales", zwei aus dem Gewässer aufsteigenden Zwillingsschwestern, die von Bussardlauten angekündigt werden und Unglück verheißen. Sieht man sich auf der Landzunge des eigentlich zauberhaften Sirmione um, scheint es, als seien sämtliche Warnungen der Eguales überhört worden. Am Platz vor der Scaligerburg sind sich Autos und Spaziergänger im Weg. Hunde bellen nervös. Weil Hotelgäste auf engstem Raum im Wagen vorfahren, werden Fußgänger an die Hausmauern gedrängt. Touristen schlecken ihre überdimensional großen Eistüten, ein Spaziergänger führt seinen Hasen an einer Leine durch den Tumult. Ein mit roter Farbe angemalter Indianer lässt sich gegen Geld fotografieren. Wer sind hier eigentlich die Fabelwesen?

"Wir haben die Fähigkeit verloren zu staunen"

Die Autorin Cremonini beobachtet das Treiben und stellt fest, die meisten Menschen am See bewegten sich fort wie in einem Traum: "Wir merken gar nicht mehr, an was für einem Ort wir uns befinden und welche Botschaften er für uns bereit hält", sagt die 39-Jährige. Die versteckte Welt des zauberhaften Gardasees wird flächendeckend übersehen. "Wir haben die Fähigkeit verloren zu staunen", sagt Cremonini. Sie beschreibt die Magie eines Laubblattes, das abgestorben zu Boden fällt und das Wunder einer aufgehenden Blüte. Es seien die kleinen Dinge, in denen das echte Leben steckt.

Kein Wunder, dass für Nymphen und Feen am heutigen See nur wenig Platz ist, obwohl sie durchaus symbolische Kraft haben können. "Sie stehen für unsere Verbindung zur Natur, die vom Tourismus als unbeschränkte Ressource in Anspruch genommen wird", sagt die Schriftstellerin. Wirklich aufmerksam und mit neuem Blick die Welt um einen herum zu beobachten, sei der Anfang, sagt Cremonini.

Wer diesem Rat folgt, bleibt nach der Begegnung mit der Autorin erst einmal im Verkehr auf der Staatsstraße stecken, die von Sirmione nach Lazise führt. Es ist eine Geduldsprobe, die zur Gewissheit führt, dass der See an seine Grenzen gekommen ist. In Lazise, dem Ort mit der höchsten Touristendichte in Italien, folgt die Bestätigung für diese These. Im August kommen hier auf einen der rund 7000 Einwohner 1340 Feriengäste, das ehemalige Fischerdorf bläht sich zu einer Großstadt mit knapp 100.000 Menschen auf. Auch zu Herbstbeginn schlürfen immer noch massenhaft Touristen in den Cafés der Hafenpromenade an ihren knallroten Drinks. Am nördlichen Hafenbecken, dem Porticciolo, erhebt sich seit diesem Sommer eine Nymphe aus einer kupferfarbenen Welle. Sie wird kaum beachtet und starrt angespannt und perplex auf das Treiben um sie herum.

Die Nymphen-Skulptur ist die Schenkung einer Unternehmerfamilie im Ort, die einen der größten Campingplätze von Lazise betreibt. 13 Campingplätze gibt es in Lazise, demnächst soll die 14. Konzession erteilt werden. Der Gardasee mit seinen 24 Millionen Übernachtungen im Jahr gleicht einer großen Goldgrube. "Mir kommt es hier vor wie in einem großen Vergnügungspark", sagt Annalisa Mancini aus Lazise. 2008 war sie Mitgründerin einer Sektion der italienischen Naturschutzorganisation Legambiente. Die Sektion wurde gegründet, um großflächige Immobilienprojekte zu verhindern, erzählt Mancini in einer Bar an der Seepromenade. 2013 wurde der Verein unter anderem mangels Mitarbeitern aufgelöst.

Auf die harte Arbeit folgtder Winterschlaf

"Die Menschen am Gardasee leben für die Arbeit, sie verdienen ausgezeichnet und sind dann zu müde, um sich dem Gemeinwesen zu widmen", sagt die 38-Jährige. Derzeit bemüht sich die Einzelkämpferin um eine Unterschriftensammlung für die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern auf der Ostumfahrung. Über 10.000 Personen unterschrieben bereits. Auslöser war der Tod des 17 Jahre alten Koen van Keulen im Juli. Der Tourist aus Holland war nachts zu Fuß auf dem Rückweg vom Vergnügungspark Gardaland zum Campingplatz. Um sich vor den Autos zu schützen, kletterte er über die Leitplanke und stürzte dort sechs Meter in einen Graben.

1996 war bereits Mancinis Vater auf derselben Strecke von einem Auto überfahren worden. "Es gibt einfach keinen Platz für Fußgänger", sagt Mancini. 22 Jahre nach dem tödlichen Unfall ihres Vaters habe sich nichts gerändert, im Gegenteil. "Man wird am Gardasee im Nu zum Millionär, Wohlstand und Reichtum wachsen, aber der Preis ist zu hoch", sagt sie.

Sie selbst arbeitet in einer Agentur für Ferienwohnungen. Man arbeite bis zu 14 Stunden am Tag, vier Monate lang zwischen November und Februar falle die Bevölkerung dann in eine Art Winterschlaf. "Die meisten fahren nach Thailand", erzählt Mancini. Probleme wie Immobilienspekulation, ungebremst wachsender Tourismus, ungefiltert abgeleitete Abwässer in den See bleiben unbehandelt liegen.

Mancini würde gerne eine Art runden Tisch ins Leben rufen zu der Frage: Wie wollen wir hier in 20 Jahren zusammenleben? Campingplatzbetreiber, Hoteliers, Politiker und Umweltschützer könnten eine Zukunftsvision entwickeln. "Aber es gibt kein Interesse. Der Neid untereinander ist groß. Alle haben Angst", sagt Mancini. Vor dem Ende des Wachstums. Also wirkt es manchmal so, als graben die Goldgräber an ihrem eigenen Grab.

Warnungen, dass sich hierdie Mafia festsetzt

Schon jetzt gibt es Vorboten eines brüsken Erwachens. Im jüngsten Bericht der lombardischen Mafia-Beobachtungsstelle heißt es: "In den Provinzen Bergamo, Brescia und insbesondere am Gardasee, der seit Jahren eine Rolle als großer Katalysator für kriminelle Organisationen aller Art spielt, ist die Verfestigung von Mafia-Organisationen festzustellen."

Auch der frühere venezianische Staatsanwalt Francesco Saverio Pavone warnte vor den Tentakeln der Mafia, die sich längst um den See geschlungen haben. Das war vor acht Jahren. "Die Lokalpolitiker müssen verstehen, dass mafiöse Investoren ihr Geld in ruhigen Gemeinden wie den hiesigen waschen, wo es leicht ist, sich zu verstecken." Der größte Fehler sei es, so Saverio Pavone, diese Realität zu verschweigen. "Überlegt es euch gut", warnte der Ermittler, "denn das Schweigen fördert die Verwurzelung der Mafia auch am Gardasee."