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Im Untergrund der Südtiroler Seele

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs ringt Südtirol weiterhin mit seiner Vergangenheit.


Bozen. Die letzte Ansprache ist gehalten, da erheben sich die Menschen im Saal von ihren Stühlen. Die Bläser der Stadtkapelle Bozen stimmen die inoffizielle Tiroler Landeshymne an. Hand aufs Herz, dann dringt es zu zünftiger Marschmusik aus hundert ergriffenen Kehlen: "Du bist das Land, dem ich die Treue halte, weil du so schön bist, mein Tiroler Land. Ein harter Kampf hat dich entzweigeschlagen, von dir gerissen wurde Südtirol."

Es ist der Parteitag der Südtiroler Freiheit. Die auf italienischem Staatsgebiet stets von Österreich träumenden Separatisten stimmen sich auf die Landtagswahl an diesem Sonntag ein.

Schon im Eingangsbereich zur Veranstaltung im Bozner Schloss Maretsch wird die unzweideutige Linie der Partei klar. Neben einem Korb mit hellgrünen Äpfeln, der wohl auch als politisches Statement für Heimatverbundenheit gelesen werden soll, können sich die Besucher mit Aufklebern und Propagandamaterial eindecken. Die Sticker mit den Slogans "Freiheit für Südtirol", "Südtirol ist nicht Italien" oder "Los von Rom" gehen am schnellsten weg. Man könnte den Eindruck gewinnen, ein stolzes und unbeugsames Volk würde hier von einer despotischen Clique unterdrückt.

So ähnlich stellen es einige Redner an diesem Samstag im Oktober auch da: "Im Grunde sind wir in Gefangenschaft", behauptet die Landtagsabgeordnete Myriam Atz Tammerle. Eva Klotz, die wie ihre Vorrednerin im Tiroler Dirndl auf die Bühne tritt, spricht vom "Kampf" gegen Rom. "Unser Land ist nur sicher, wenn es unabhängig ist von Italien", sagt Klotz und fügt hinzu, dass man sich für seine Vergangenheit nicht schämen müsse.

Diese Feststellung hat einen besonderen Klang, wenn man bedenkt, dass der Vater der 67 Jahre alten Parteigründerin in den 1960er Jahren ein führendes Mitglied des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) war. Der BAS war eine Terrororganisation, die die Abtrennung Südtirols von Italien mit tödlichen Bombenattentaten voranzutreiben versuchte.

Exakt 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, der unter anderem zur Folge hatte, dass Südtirol von Österreich abgespalten und Italien zugeschlagen wurde, scheint in der Region derzeit Einiges zusammen zu kommen: wachsender Separatismus wie andernorts in Europa, Fremdenangst, erstarkender Populismus und die ewige Frage, wie mit einer traumatischen Vergangenheit am Besten umzugehen ist.

Besonders wichtig für die selbst ernannten Südtiroler Freiheitskämpfer ist die neue Regierung in Wien. Österreich bezeichnet sich auch heute noch als "Schutzmacht" Südtirols. Der völkerrechtliche Streit um das Land mit Italien ist zwar seit 1992 offiziell beigelegt, seither sind auch die weitreichenden Autonomierechte Südtirols verwirklicht. Aber seit Monaten sorgt der Plan der ÖVP-FPÖ-Regierung, den deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolern neben dem italienischen auch den österreichischen Pass zu geben, für Unruhe. Dass Wien zwischenzeitlich sogar drohte, die symbolbeladene Brennergrenze zu schließen, um Flüchtlinge abzuhalten, hat die Lage nicht gerade entschärft.

"Historisches Zeitfenster" durch die Doppelpass-Debatte

"Für uns ist ein historisches Zeitfenster aufgegangen", sagt Sven Knoll, der im Trachtenjanker gekommene Fraktionsvorsitzende im Bozner Landtag. Knoll ist das schneidige Gesicht der Bewegung, die ganz selbstverständlich "Volkstumspolitik" betreibt, eine in Südtirol immer noch sehr gängige Kategorie.

Der Doppelpass ist das politische Instrument der Stunde, er ist für Knoll ein erster Hebel, um die Autonomie zu überwinden und letztlich zum großen Ziel der Selbstbestimmung zu gelangen. "Sind wir als ethnische Minderheit in Italien sicher?", fragt er. Von diesem Staat hätten sich seine Landsleute gar nichts zu erwarten. Drei von 35 Abgeordneten stellt die Südtiroler Freiheit bisher im Landtag, es könnten mehr werden ab Sonntag.

Vor allem die junge und ländliche Bevölkerung Südtirols zeigt sich empfänglich für das Salz, das die Separatisten in die nie ganz verheilten Wunden der Vergangenheit streuen. Angereichert wird dieses emotionale Amalgam mit der Angst vor Fremden, obwohl die rund 530.000 Südtiroler derzeit gerade einmal 1500 Asylbewerber aufnehmen müssen. Man müsse heute auf alles Rücksicht nehmen, auf "Multikulti", aber die eigene Sprache und Kultur, also die deutsche, gerate in Vergessenheit, schimpft eine Sitzungsteilnehmerin. Wer hier wen inzwischen diskriminiert, ist nicht immer ganz klar. Manchmal kommt es einem vor, als wiederholten diejenigen, die sich als historisch Unterdrückte empfinden, das an ihnen begangene, alte Unrecht, ohne es zu merken.

So klingt das auf dem Trauma der nie verwundenen Abspaltung von Österreich gründende Südtiroler Lamento: In den Ämtern, bei Gericht, in den Arztpraxen werde immer häufiger nur Italienisch gesprochen, obwohl die deutsche Sprache der Italienischen offiziell gleichgestellt ist. Auch sei man der Unberechenbarkeit Italiens, gerade in Finanzangelegenheiten, ausgeliefert, lautet ein anderes Argument, das nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen ist.

Der Grenze zwischen echten historischen Verletzungen und ihrer politischen Instrumentalisierung verschwimmt allerdings. Die Zwangsitalianisierung zur Zeit des italienischen Faschismus, aber auch vom Deutschen Reich unter Hitler geplante und umgesetzte Massenumsiedlungen und schließlich der Bombenterror, der trotz der Autonomie-Verhandlungen bis in die 1980er Jahre anhielt, schwingen weiter mit im Untergrund der Südtiroler Seele.

Die Separatisten benutzen die Unterdrückung vor über 70 Jahren als bevorzugte Klaviatur. Andererseits kann man auch den Eindruck gewinnen, großen Teilen der Politik und der Bevölkerung wäre es am liebsten, die Vergangenheit endlich mal Vergangenheit sein zu lassen.

Verurteilung wegen "Schändung" der Italien-Flagge

Hannes Obermair spricht in diesem Zusammenhang vom "geschichtsblinden Südtirol". Der Historiker steht in der Abenddämmerung am Bozner Gerichtsplatz. Fledermäuse sausen waghalsig an den Monumentalbauten aus der Mussolini-Zeit vorbei. Hier, vor dem ehemaligen Lokalbüro der Faschistischen Partei Italiens, sorgten Sven Knoll und Eva Klotz vor Jahren für einen Eklat, als sie mit Sympathisanten Italien symbolisch mit Besen aus Südtirol herauskehrten. Der Kassationsgerichtshof in Rom bestätigte vergangenes Jahr die Verurteilung der beiden wegen "Schändung der italienischen Flagge". Jahrelang benutzen Südtiroler Nationalisten Orte wie den Gerichtsplatz oder das Siegesdenkmal, um ihren Opfermythos zu pflegen. "Ohne Not überlässt die kollektive Verdrängung die Deutungshoheit den patriotisch-konservativen Gruppierungen", stellt Obermair fest, obwohl 100 Jahre nach Weltkriegsende ja durchaus Anlass zur Analyse bestehe.

Obermair ist sich sicher, dass die Schemata von (italienischen) Tätern und (deutsch-österreichischen) Opfern einer Aufarbeitung im Weg stehen. "Man muss von der Schwarz-Weiß-Malerei wegkommen", sagt der 57-Jährige. Wie das gehen kann, hat der Historiker zusammen mit anderen Kollegen gezeigt. Im jahrzehntelang instrumentalisierten Siegesdenkmal in Bozen schuf Obermair ein aufschlussreiches Dokumentationszentrum zur faschistischen, aber auch nationalsozialistischen Diktatur in Südtirol. Am Gerichtsplatz ließ die Stadtverwaltung Bozen ein faschistisches Monumentalrelief am ehemaligen Parteigebäude von Künstlern und Historikern in ein Mahnmal verwandeln. "Niemand hat das Recht zu gehorchen", mit diesen Worten leuchtet dort nun ein an Hannah Arendt angelehntes, absurd anmutendes Mantra in Neonlettern. "Wir haben den Nationalisten ihr Spielzeug weggenommen", sagt Obermair. Aber das beredte Schweigen der großen Mehrheit zu den historischen Traumata überzeugt ihn nicht. Es ist ein Schweigen, in dem die lautesten Schreie besonders schrill zu vernehmen sind.

Südtirol ist in der Rangliste der 20 wohlhabendsten Regionen

Südtirol geht es gut. Auch das trägt zu einer gewissen Gemütlichkeit bei, in der Nationalisten sich leichter Gehör verschaffen können. Knapp 90 Prozent aller Steuern bleiben im Land, so sieht es das Autonomiestatut vor. Von einer armen Bergregion hat sich Südtirol in den vergangenen 70 Jahren in die Rangliste der 20 wohlhabendsten Regionen Europas vorgearbeitet, in Italien steht man an der Spitze.

Wohlstand macht müde, das weiß auch Luis Durnwalder, eine Art Franz-Josef Strauß Südtirols. 25 Jahre lang war er Landeshauptmann, er tut sich ein bisschen schwer mit dem Ruhestand, das merkt man. Seine christdemokratische Südtiroler Volkspartei (SVP) ist immer noch die tonangebende politische Kraft im Land, verliert aber immer mehr an Zuspruch. "Wissen Sie, ich bin Jäger", sagt Durnwalder beim Treffen in einem Bräustüberl bei Meran, "wenn die Gämsen ruhig auf der Alm grasen, dann ist kein Adler oder Wolf in der Nähe. Wenn sie aber zu ruhig sind, merken sie gar nicht mehr, wenn Gefahr droht."

So sei es auch mit den Südtirolern. Die Adler und Wölfe sind für Durnwalder dabei weniger die heimischen Nationalisten, auf die man immer auch ein bisschen Rücksicht nimmt, der alten Gefühle wegen. Die Raubtiere sitzen auch für Durnwalder in Rom. "Als Minderheit in Italien muss man die Autonomie immer wieder mit besonderem Einsatz verteidigen", sagt der Ex-Landeshauptmann. Der brisante und vor allem in Rom als Affront angenommene Doppelpass-Vorschlag Österreichs lässt ihn eher kalt. "Ich kann mit oder ohne leben, mir ist das gleich."

Dass die derzeitige Schnappatmung der Separatisten nicht flächendeckend verfangen muss, wird auch bei einer Podiumsdiskussion in Schlanders deutlich. Der Saal im Kulturzentrum ist rappelvoll, die lokalen Kandidaten stellen sich vor. Die Zuschauer dürfen per Smartphone die Themen mitbestimmen. Der Doppelpass kommt erst weiter hinten. Ganz vorne liegen Probleme, die die Menschen im Vinschgau ganz besonders bewegen. Das eine ist der zunehmende Verkehr, das andere die Zukunft des lokalen Krankenhauses. Von Sehnsucht nach Österreich kann an diesem Abend nicht die Rede sein.