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"Nicht jeder ist sofort ersetzbar"

Von Alexander Dworzak

Politik

Angela Merkels Autoritätsverlust könnte sich bei EU-Krisen negativ auswirken, meint Forscher Stefan Lehne.


Brüssel/Berlin/Wien. Innenpolitisch ist Angela Merkel zur Belastung für ihre CDU und die konservative Union geworden. Das hat sie mit ihrem angekündigten Verzicht auf den Parteivorsitz eingestanden. Einen Autoritätsverlust als Kanzlerin erwartet EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger dadurch nicht, sondern "das Gegenteil". Merkel könne sich nun "ganz auf das eine Amt konzentrieren, sagt der EU-Budgetkommissar zur "Neuen Osnabrücker Zeitung". Noch vor einem Monat nannte Oettinger Merkel eine "lahme Ente". Damals verlor ihr langjähriger Vertrauter Volker Kauder völlig überraschend die Wahl zum Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU und musste nach fast 13 Jahren im Amt abtreten.

Welche Aussage Oettingers trifft nun zu? Beide Teile hätten etwas für sich, meint Gerda Falkner, Leiterin des Instituts für europäische Integrationsforschung an der Universität Wien. "Die Reputation auf EU-Ebene besteht aus zwei Teilen. Merkel repräsentiert bei Sitzungen im Europäischen Rat auch weiterhin die Stärke Deutschlands. Andererseits, wenn nach außen dringt, dass es im Inneren Dissens gibt, schädigt das in einem gewissen Rahmen."

Das öffentliche EU-Bild Merkels speist sich noch immer zu einem Großteil aus der Finanz- und Griechenlandkrise - es ist das einer Macherin. Doch auch in Brüssel blieb nicht verborgen, wie mühsam erst die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl im September 2017 verlief; erst ein halbes Jahr danach wurde die schwarz-rote Bundesregierung angelobt. Danach fiel die Koalition in Europas größter Volkswirtschaft durch Streitigkeiten auf. Dass Merkel mit Innenminister Horst Seehofer, also einem Vertreter der Schwesterpartei CSU, ständig in Konflikt geriet, wurde mit Befremden aufgenommen.

Der Disput wurde bis in den EU-Gipfel im Juni hineingetragen. Merkel propagierte eine europäische Lösung. Diese sollte Seehofers Vorschlag verhindern, dass Personen an der deutschen Grenze abgewiesen werden, die bereits in einem anderen Unionsland einen Asylantrag gestellt haben. Dafür brauchte Merkel Verbündete - und fand sie unter anderem in Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron.

Selbstlos handelte der natürlich nicht. Macrons Vorstellungen über die Zukunft der Union stockten seit seiner Sorbonne-Rede 2017. Ideen über neue Euro-Umverteilungstöpfe kamen kaum vom Fleck - auch aufgrund deutscher Bedenken. Ganz zu schweigen vom Vorstoß eines eigenen Finanzministers für den europäischen Währungsraum. Im Juni besiegelten Merkel und Macron in der Meseberger Erklärung, dass tatsächlich ein Eurozonen-Budget eingerichtet werden soll. Statt mehreren hundert Milliarden, die Macron vorschwebten, nannte Merkel aber einen "unteren zweistelligen Milliardenbereich".

Starke persönliche Beziehungen

Schon damals stießen die deutsch-französischen Pläne auf Kritik, angeführt von den Niederlanden. "Die Reformperspektive hat sich aufgrund der Lage in Italien weiter verschlechtert. Das Budgetthema ist zuletzt in der EU nicht einmal mehr diskutiert worden", sagt Stefan Lehne vom Thinktank Carnegie Europe.

Vom Reformvorhaben bleibe Lehne zufolge wohl nur der sogenannte Backstop übrig. Der Euro-Rettungsfonds ESM soll zum Europäischen Währungsfonds EWF ausgebaut und als Letztabsicherung für den Bankenabwicklungsfonds genutzt werden.

Bis Dezember müssten Entscheidungen zum EWF fallen, sonst schließe sich das Reform-Zeitfenster, sagte der SPD-Abgeordnete Achim Post im September. Nun steht ein anderer Termin in diesem Monat im Vordergrund: die Wahl zum CDU-Vorsitz am 8. Dezember. Nach Merkels Rückzugserklärung haben die Generalsekretärin der Partei, Annegret Kramp-Karrenbauer, Gesundheitsminister Jens Spahn und der frühere Fraktionschef Friedrich Merz ihre Kandidatur angekündigt. Von dieser Wahl hängt ab, wie viel Handlungsspielraum Merkel danach noch auf EU-Ebene besitzt. Bei einem Votum für Spahn oder Merz wäre dieser stark eingeschränkt, beide gehören dem konservativen Parteiflügel an. Dort steht Merkel in der Kritik, weil sie Macrons EU-Visionen hingenommen hat, anstatt eine Gegenerzählung zu lancieren.

Zwar hängt nicht alles von Merkel ab. Die zähen Verhandlungen über den neuen EU-Finanzrahmen ab 2021 liegen bei den jeweiligen Finanzministern. Und bei den Brexit-Verhandlungen spielt Chefverhandler Michel Barnier die zentrale Rolle. "Falls es aber zu neuen Krisen kommt, etwa zu einer italienischen Bankenkrise oder wenn der Brexit-Prozess katastrophal abläuft, wird es schlecht sein, wenn es eine geschwächte oder gar keine Merkel gibt", sagt Stefan Lehne. Der Carnegie-Forscher führt ins Treffen, dass Merkels Autorität in den vergangenen 13 Jahren Kanzlerschaft nicht leicht zu ersetzen sei. Die normative Kraft des Faktischen, also eine Führungsrolle aufgrund der deutschen Stärke, federe nur bedingt ab: "Das persönliche Element in der Spitzenpolitik darf nicht unterschätzt werden. Merkel hat so viele starke Beziehungen zu so vielen Beteiligten aufgebaut. Zwar ist jeder ersetzbar, aber nicht jeder ist sofort ersetzbar."

Ohne Merkel hätte es die Russland-Sanktionen nicht gegeben, merkt Lehne an. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim verhängte die Union Maßnahmen, deren Aufhebung ist an Fortschritte beim Minsker Abkommen gekoppelt - ebenfalls auf Initiative Merkels. Im Juli wurden die Sanktionen von den EU-Staaten einstimmig bis Jänner 2019 verlängert. Auf die Nur-noch-Kanzlerin Merkel wartet dann ein Belastungstest ihrer Autorität.