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Abgeschafft, aber nicht verschwunden

Von Michael Schmölzer

Seit 1918 gibt es den Adel in Österreich offiziell nicht mehr. Doch die Traditionen haben sich bis heute erhalten.


Wien. Als die Republik kam, ging der Adel. Seine Privilegien, sein altösterreichisches Gepränge passten ab 1918 nicht mehr in ein demokratisches Gemeinwesen. Man hatte genug von den Habsburgern und ihrer blaublütigen Entourage, alle Vorrechte wurden im "Adelsaufhebungsgesetz" rigoros gestrichen.

Doch das ist nur eine Seite der Wahrheit. Denn so einfach ließen sich die ehemals Hochwohlgeborenen nicht abschaffen. Wer über Jahrhunderte gewohnt war, einen besonderen Status innezuhaben, der leistet hartnäckig Widerstand gegen die eigene Deklassierung. Adeliges findet sich deshalb heute an jeder Ecke. Auch, weil das Bürgertum gräfliche Verhaltensweisen und Gebräuche immer eifrig kopiert und bis in die heutigen Tage weitergegeben hat. Industriebarone wollten ebenfalls Wappen, Schloss und Siegelring - was vom "echten" Adel stets mit Nasenrümpfen quittiert wurde.

Mit einer Kreditkarte wird jeder zum Grafen

Die Studien des Wiener Soziologen Roland Girtler belegen die Langlebigkeit des Adels. In seinem Buch "Die feinen Leute" führt er als Beleg die Kreditkarte an. Die Idee kommt zwar aus den USA und k.u.k.-Barone, Komtessen und Kurfürsten haben nie mit Visa oder American Express bezahlt. Aber hier wird das ganz spezielle Verhältnis des Adels zu allem Irdischen und Materiellen sichtbar. Denn die Blaublütler waren gewohnt, eine vornehme Distanz zum Geld an den Tag zu legen. Der Fürst verfügte selbstverständlich über Geld, "aber die Abhängigkeit wird nicht gezeigt, sondern sorgsam hinter Distanzierungsritualen verborgen", schreibt Girtler. Kaiser Franz Joseph etwa hatte nie direkt mit Geld zu tun gehabt, ein Beamtenheer war damit beschäftigt, seine Rechnungen zu begleichen.

Bei einer Kreditkarte gehe es genau darum, fällt Girtler auf. Das jeweilige Geldinstitut übernimmt es, die Überweisung für den Kunden durchzuführen. Der Kreditkarteinhaber kommt mit dem "schnöden Mammon" nicht in Berührung, er delegiert diese "unfeine" Handlung an andere, die in seinen Diensten stehen.

Durch die Kreditkarte wird ein geschätztes Drittel aller Österreicher zwar nicht zum Adeligen, man darf aber ein erlauchtes Gefühl der Erhabenheit genießen - was dem Erfinder der Plastikkarte, John Biggins, 1946 nicht entgangen ist.

Aus Schilderungen über die "gute alte Zeit" ist bekannt, dass Adelige oft enorme Schulden anhäuften, ohne dass es jemand gewagt hätte, den hohen Herren mit derart Banalem zu belästigen und die ausstehenden Beträge wirklich einzufordern. Wenn es der Fürst zu weit trieb, konnte es vorkommen, dass er im Schuldenturm oder im Kotter landete, bis alle Ausstände beglichen waren.

Dem verarmten Adel musste deshalb aber nicht bange sein, die abgebrannten Grafen kamen als Offiziere in der kaiserlichen Armee unter, wo sie erneut Schulden "wie ein Stabsoffizier" anhäufen konnten. Noch heute ist es üblich und wird von der "besseren" Gesellschaft gerne gesehen, wenn männliche Nachfahren von Adeligen den Militärdienst ableisten. Und zwar nicht das Pflichtprogramm, sondern ein Jahr freiwillig. Somit ist eine Laufbahn als Offizier möglich.

Die blaublütige Gesellschaft weiß um ihren Chic

In den Marketing-Abteilungen der österreichischen Lebensmittelbranche weiß man, dass Adel heute wie damals mit Exklusivität, gutem Geschmack und Qualität assoziiert wird. Produkte wie "Bergbaron", "Prinzenrolle" oder "Landgraf" sprechen Bände. Wobei gerade letzteres Produkt klar im Bier-Billigsektor angesiedelt ist und von wenig kaufkräftigem, dafür umso durstigerem Publikum konsumiert wird.

Die adelige Gesellschaft kennt auch 2018 ihren Chic und genießt ihr Prestige. So gibt es jährlich einen Adelsball im böhmischen Karlsbad, wo sich blaues Blut aus ganz Europa trifft. Freifrauen mit großen Hüten und teuer gewandete Herren geben sich im Grandhotel Pupp ein Stelldichein, TV-Stationen sind immer zur Stelle. Auch Bürgerliche dürfen kommen, sofern sie eingeladen sind.

Viel Folklore, aber auch viel demonstrativ an den Tag gelegtes Klassenbewusstsein: Der Münchner Kaufmann Oron-Michael Kalkert, der den Ball organisiert, plaudert gegenüber der "Wiener Zeitung" aus dem Nähkästchen: "90 Prozent des Adels leben sehr zurückgezogen", weiß er, "es wird großer Wert auf Diskretion gelegt." Bei denen, "die dauernd in den Medien" seien, handle es sich mit Sicherheit nicht "um die echten" Adeligen. Diese legen jedenfalls auf die korrekte Anrede bei den schriftlichen Einladungen wert, vor allem in Österreich, so Kalkert. "Du weißt aber schon, dass wir Grafen sind", bekomme er dann im Fall eines Irrtums schriftlich mitgeteilt.

Bälle hatten ursprünglich die Funktion, die Debütantinnen und Debütanten in die adelige Gesellschaft einzuführen. Vor Beginn des Balls kursierten Listen, auf denen ersichtlich war, wer eröffnen wird und ob der eigene blaublütige Spross dort Aussicht auf eine "standesgemäße" Bekanntschaft hat. Heute wird fast jeder Ball von Debütantinnen und Debütanten eröffnet, ohne dass die ursprüngliche Funktion dieser Gewohnheit bekannt wäre.

Laut Kalkert finden auch heute zahlreiche Feiern "auf irgendeinem Schloss, Gutsbesitz oder Herrenhaus" statt, bei denen der Adel privat, exklusiv und ungestört unter sich sein kann. "Da sind dann aber nicht sehr viele Menschen, bloß so 150 Leute. Jeder kennt den anderen", so Kalkert. Aber: Hier ist der Normalsterbliche nicht vertreten.

Trennlinien zwischen Adel und Bürgern verschwimmen

Das Hofzeremoniell ist zwar tot, doch in Kreisen der "besseren" Gesellschaft wird auch heute noch enormer Wert auf ungeschriebene Verhaltensvorschriften gelegt. Denn genau hier ist der Ort, wo sich die Spreu vom Weizen trennt. Wer nicht weiß, wann eine Verbeugung, eine richtige Anrede angezeigt ist, hat in diesen Kreisen verloren. Schnell ist klar, wer "einer von uns" ist und wer nicht.

Verstößt ein Angehöriger des alten Hochadels wiederholt gegen die Etikette, wird er von der "besseren" Gesellschaft geschnitten. Wobei es hier wieder eine Rangordnung gibt. Je höhergestellt der Adelige, desto mehr Fehltritte darf er sich erlauben.

Die subtilen, kaum merkbaren Unterschiede im Verhalten und die Sanktionen der Etablierten wurden von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu in "Die feinen Unterschiede" beschrieben. Selbst wenn jemand alle Verhaltenscodes kennt: Sobald es bemüht wirkt, ist er als "Plebejer" enttarnt. Denn dann hat er die Regeln mühsam lernen müssen und diese nicht automatisch und von klein auf mitbekommen.

Eine klare Trennlinie zwischen Adel und Bürgertum gibt es heute nicht mehr, es würde auf Gelächter stoßen. Es ist auch nicht nötig, denn "blaues Blut", Erfolg im Beruf und damit eine dicke Geldbörse gehen oft Hand in Hand. Schon das ererbte und von einer Generation auf die nächste weitergegebene Bewusstsein, einer Elite anzugehören, entfaltet hier die entsprechende Wirkung.

Die Mitglieder des konservativen Altadels sind heute zwar bereit, "andere" als gleichgestellt zu werten, wenn sie über Geld, Macht und Einfluss verfügen. Allerdings müssen sie sich gewissen Regeln unterwerfen und Standards einhalten. So ist es auch heute undenkbar, dass "neureiche Parvenüs" auf Akzeptanz stoßen.

"Die Münchner Schickeria würde natürlich liebend gern zum Ball nach Karlsbad kommen", so Organisator Kalkert. Nur: "Ich will sie nicht dorthaben." Stellt man sein Geld protzig zur Schau, ist man unten durch. "Das macht man nicht", befindet Kalkert. "Die sollen auf die Bälle nach Paris oder Monaco gehen." Auch nicht gerne gesehen sei, dass eine Adelige einen Bürgerlichen heirate, der dann ihren Namen annimmt. "Dann ist man aus dem Kreis draußen. Wenn er seinen Namen behält und sie auch, ist alles in Ordnung", so Kalkert.

Ex-Adel verfügt immer noch über riesige Ländereien

Grundbesitz und Jagd sind von jeher adelige Attribute, von beidem hat man sich nicht verabschiedet. Der größte Grundbesitzer in Österreich sind zwar die Bundesforste. Dahinter folgen die Gemeinde Wien, dann die Kirche in Form verschiedener Klöster - und die Nachfahren einstiger Vertreter der Hocharistokratie. Esterhazy, Mayr-Melnhof-Surau, die Liechtensteins und die Schwarzenbergs besitzen Ländereien - zumeist handelt es sich dabei um Wald. Denn anders als in ex-kommunistischen Ländern wurde der Adel in Österreich nie enteignet.

Und selbst wenn heute "Untertanen" über Grundbesitz verfügen und jagen dürfen: Nur die Veranstaltungen des wieder auf freiem Fuß befindlichen "Landwirtes" Alfons Mensdorff-Pouilly sind einigen Generaldirektoren und Politikern in bleibender Erinnerung. Zwischenzeitlich war der Lobbyist allerdings mit Jagdverbot belegt. Und die feine Gesellschaft, die hat den "Grafen Ali" längst aus ihren Kreisen verstoßen.

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Die "Wiener Zeitung" widmet sich intensiv dem Republiksjubiläum, unter anderem mit einem "Wiener Journal" am Freitag 9. Nov. sowie einer WZ-Schwerpunkt-Ausgabe am Samstag 10. November