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Als sich die Völker abmeldeten

Von Gerhard Lechner und Michael Schmölzer

Vor 100 Jahren endete eine Ära in Mitteleuropa: Die Habsburgermonarchie zerbrach.


Am 12. November 1918 wurde vor dem Parlament in Wien die Republik ausgerufen, proklamiert durch zwei Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung, Franz Dinghofer und Karl Seitz. Dramatische Ereignisse - doch vergessen wird, was in diesen Tagen in den k.u.k. Kronländern geschah. In Budapest, Prag, Zagreb und Krakau fanden ebenfalls Revolutionen statt. Gleichzeitig rückten die Italiener bis an den Brenner vor und besetzten in der Folge sogar Innsbruck.

  • Tschechien: "Jedes Blutvergießen vermeiden"

1918, nach vier Jahren Krieg, hatten die die Tschechen die Nase endgültig voll von "Kaiser, Gott und Vaterland", von Mangel, Hunger und dem Sterben in einem sinnlosen Krieg. In Prag ging es im Oktober 1918 drunter und drüber. In den Kasernen meuterten die Soldaten, gaben Schüsse in die Luft ab und desertierten, anstatt wie befohlen mit dem Zug an die Front zu fahren. Den gemeinen Infanteristen wurde als Vorsichtsmaßnahme die Munition weggenommen und von Unteroffizieren verwahrt. "Nur mehr die Narren kämpfen, die Klugen bleiben zu Hause", hieß es, wie der Historiker Manfried Rauchensteiner in seinem Buch "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger-Monarchie" schreibt.

Das Stadtbild von Prag war von streikenden Arbeitern geprägt. Die Fabriken wurden stillgelegt, Offiziere von Untergebenen angerempelt. Von den Fronten zurückgekehrte Deserteure bildeten eine wilde Soldateska. Auf dem Wiener Ostbahnhof und in Stadlau kam es zu Feuergefechten zwischen tschechoslowakischen und ungarischen Heimkehrern auf der einen und deutschen Österreichern auf der anderen Seite, die sich zum Selbstschutz zu Volkswehren zusammengeschlossen hatten. Lebensmitteldepots wurden geplündert, man stopfte sich die Taschen voll.

In Prag gingen deutsche und tschechische Studenten auf die Straße und provozierten einander. Es gab Zusammenrottungen und Schlägereien. Die Straßen waren mit rot-weißen Fahnen geschmückt (das blaue Dreieck kam erst 1920 dazu). Laut Augenzeugenberichten zogen tausende Menschen singend durch die Stadt, sangen die tschechische Hymne und das Hetzlied "Hej Sloveni". Die Frauen trugen tschechische Nationaltracht, viele Männer kamen in der Uniform des nationalistischen tschechischen "Sokol"-Turnvereins.

Der kaiserliche Stadtkommandant von Prag, Eduard Zanantoni, hatte alle Hände voll zu tun, damit es nicht zur Eskalation kam. Die Zeitungen strotzten vor "gehässigen Artikeln gegen Kaiser und Staat", wie Zanantoni bitter beklagte, im Nationaltheater würden nur noch solche Stücke aufgeführt, die den tschechischen Staat verherrlichten und die Monarchie verunglimpften. "Von Zucht und Disziplin war keine Rede mehr (. . .)", so Zanantoni.

Der Schweizer Gesandte in Wien schrieb in seinem letzten Bericht aus der Habsburgermonarchie am 31. Oktober: "In der gewesenen Doppelmonarchie herrscht das Chaos." In Wien ging man im Oktober 1918 davon aus, dass die Tschechen und die Slowaken nicht mehr in der Monarchie zu halten waren. Kaiser Karl versuchte, wenigstens die Ungarn für eine gemeinsame Fortführung des Reiches zu gewinnen, was ebenfalls nicht funktionierte.

Immerhin gab es Spekulationen, wonach Herzog Max von Hohenberg, der ältere Sohn Erzherzog Franz Ferdinands, böhmischer König werden könnte. Dazu kam es nicht, das Manifest Kaiser Karls, mit dem er "seine Völker" bei der Stange halten wollte, verhallte wirkungslos.

In der maroden k.u.k.-Zentrale in Wien fügte man sich dem Unvermeidlichen. Als der Statthalter von Böhmen, Graf Coudenhove, anfragte, wie er sich zu verhalten habe, hieß es: "Jedes Blutvergießen vermeiden, keinen Eklat machen und den Übergang zum Nationalstaate friedlich in die Wege leiten."

In Prag wurde am 28. Oktober, exakt um 19.18 Uhr die Republik ausgerufen, zwei Wochen, bevor man in Wien den gleichen Schritt setzte. Der Wenzelsplatz war vollgepackt mit Menschen, die Unabhängigkeitserklärung wurde von Tomas Garrigue Masaryk verfasst und unterschrieben. Die Tschechoslowakei sollte eine freie und demokratische Republik sein, in der es Religions- und Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz gibt.

Am 30. Oktober schloss sich die slowakische Bevölkerung an und erklärte sich als Teil der Tschechoslowakei für unabhängig. Es kam allerdings nicht zu einer tschechischen und slowakischen Republik unter einem gemeinsamen Dach, wie man das in Bratislava gerne gehabt hätte, sondern zu einer "tschechoslowakischen", in der die Slowaken nach 1918 und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg die zweite Geige spielen, bis es schließlich 1993 zur Abtrennung kam.

  • Ungarn: Die "Revolution der Herbstrose"

In Budapest verlief die Revolution gewaltsamer als in Prag - dort gab es Demonstrationen und Straßenschlachten. Obwohl innerhalb der k.u.k. Monarchie privilegiert, hatte man auch hier nach vier Jahren Krieg die Nase gestrichen voll. Als in Debrecen die "Kaiserhymne" gespielt wurde, kam es zu Tumulten.

Am 25. Oktober 1918 marschierten 300 bis 400 Offiziere an der Spitze einer Studentendemonstration zur Burg in Buda, sie durchbrachen mit dem Säbel in der Hand Polizeiabsperrungen und hissten mit "Vivat"-Rufen die Nationalflagge. In Budapest steigerten sich Wut und Aufregung, der Stadtkommandant Geza Lukachich von Somorja ließ in die Menge feuern.

Zuvor war in Teilen der ungarischen Reichshälfte das Standrecht verhängt worden, Deserteure sollten an die Wand gestellt werden. Das galt auch für Budapest, wurde aber kaum vollstreckt. Was angesichts der hohen Zahl an Fahnenflüchtigen aus allen Teilen der Monarchie gar nicht mehr möglich gewesen wäre.

Viele ungarische Soldaten an der Front hatten keine komplette Uniform mehr, in manchen Einheiten waren die Männer derart ausgezehrt, dass sie nur noch apathisch im Schützengraben lagen, von Versorgung der Verwundeten konnte keine Rede mehr sein.

In Budapest wurde Mitte Oktober ein Revolutionsrat gebildet, der von Sturmkompanien zwecks Aufrechterhaltung der Ordnung eingenommen werden sollte - was aber nicht geschah. Damit hatte in Ungarn die "bürgerliche" Revolution am 31. Oktober gewonnen. Einige Soldaten drangen in das Haus des bisherigen ungarischen Ministerpräsidenten István Graf Tisza ein und erschossen ihn. Sie machten den autoritären Grafen persönlich für den Krieg verantwortlich und nahmen Rache. Mihaly Karolyi, ebenfalls ein Graf, wurde zum neuen Ministerpräsidenten ernannt.

Die Straßen gehörten den Radikalen und den Pazifisten, es war "ein Hauch von 1848er-Revolution spürbar", wie Rauchensteiner in "Der Erste Weltkrieg" schreibt. Hunderttausende zogen auf die Straßen und schmückten sich zum Zeichen der Gewaltlosigkeit mit weißen Astern. Deshalb ging das Ereignis auch als "Revolution der Herbstrose" (Az öszirozsas forradalaom) in die ungarischen Geschichtsbücher ein.

Der königlich-ungarische Kriegsminister Bela Lindner forderte am 1. November alle Ungarn an der Front auf, die Waffen niederzulegen. Nachdem Kaiser Karl, der in Ungarn als König Karl IV. firmierte, am 13. November 1918 auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften in Ungarn verzichtet (aber formal nicht abgedankt) hatte, rief die Regierung Karolyi am 16. November 1918 die Republik Ungarn aus. In deren Verfassung wurden die Redefreiheit und das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen verankert.

  • Südtirol: Die Alliierten erreichen den Brenner

Mit der Auflösung der Donaumonarchie zerbröselte automatisch die k.u.k.-Front in Italien. Zahlreiche Einheiten machten sich einfach auf den Heimweg, um ihr neues Vaterland zu verteidigen. Andere gingen von der Etappe nicht mehr an die Front, meuterten, beschimpften die Offiziere und waren auf keinen Fall bereit, in letzter Sekunde für eine verlorene Sache zu sterben.

Am 24. Oktober eröffneten die Italiener mit alliierter Hilfe an der Gebirgsfront ihre Offensive, um der Monarchie den Todesstoß zu versetzen. Bald ging den verbliebenen k.u.k. Soldaten die Munition aus, auch die Kaiserjäger, Kaiserschützen, Kärntner, Oberösterreicher, Salzburger wollten nicht mehr und rebellierten. Vor allem als sie erfuhren, dass sie den Abzug anderer Einheiten - Tschechen, Ungarn, Ruthenen - decken sollten.

Die Lage war hoffnungslos, die Front löste sich auf. Die Italiener kamen problemlos voran. Rom wollte keinem Waffenstillstand zustimmen, sondern verlangte von Wien de facto die bedingungslose Kapitulation. Das wurde von Österreich angenommen, wobei Kaiser Karl versuchte, die Verantwortung für das Fiasko nicht selbst zu übernehmen, sondern auf einen Untergebenen abzuwälzen.

400.000 k.u.k. Soldaten gerieten in Gefangenschaft, weil die Österreicher irrtümlich einen Tag früher als die Italiener zu kämpfen aufhörten. Jetzt fielen Gebiete an den Feind, in denen die Mehrheit der Bevölkerung bis heute deutsch spricht. Die italienischen Einheiten marschierten ungehindert in Richtung Nordtirol. Die Reste der k.u.k. Armee stolperten verwundet und ausgehungert über den Brenner zurück nach Tirol, raubten und plünderten, es herrschte ein unglaubliches Chaos. Zeitzeugen berichteten, dass überall weggeworfene Waffen und vom Zug gestürzte, tote Soldaten lagen. Die Zeitung "Der Tiroler" schrieb, dass es sich nicht mehr um Soldaten, sondern um eine "wilde Horde" handelte. Am 3. November 1918 kam es in Tirol zur Bildung von Bürgerwehren, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Am 5. November rückten bayerische Truppen auf Bitte Tirols in Tirol ein. Man hoffte, die Bayern würden Ordnung schaffen, und den Deutschen ging es darum, eine neue Abwehrlinie zu schaffen. Denn das Deutsche Reich befand sich immer noch im Kriegszustand mit Italien und lief nun Gefahr, von Süden her aufgerollt zu werden.

Am 10. November 1918, also genau vor 100 Jahren, erreichten die Italiener den Brenner, zwei Wochen später besetzten sie Innsbruck - und blieben bis zum Dezember 1920 dort. In der Folge blieb Innsbruck bei Österreich, Südtirol aber ging unwiderruflich an Italien, was in den folgenden Jahrzehnten für Spannungen und massive Probleme sorgte.

  • Gründung Jugoslawiens schuf keinen Frieden

An der Seite der Alliierten kämpfte seit Juni 1918 auch eine "jugoslawische Division", die sich nicht nur aus Serben und Kroaten, sondern auch aus Slowenen zusammensetzte. Die galten bisher als recht kaisertreu. In Laibach fürchtete man aber, bei dem absehbaren Zusammenbruch des Habsburgerreiches unter die Räder zu geraten: Ein an Deutschland eventuell angeschlossenes Österreich wäre übermächtig, es sei besser, den Schulterschluss mit dem sich bereits abzeichnenden südslawischen Staat zu suchen. Während die Verhältnisse zunehmend ins Rutschen gerieten, träumten manche in der k.u.k. Führung noch von einem Siegfrieden - trotz aller Schwierigkeiten, die Völker zusammenzuhalten. Am 21. Juli noch forderte Generalstabschef Arthur Arz von Straußenburg noch die völlige Angliederung Serbiens und auch Montenegros an die Monarchie und die Schaffung eines Balkanstaatenbundes "unter unserer Führung". Die Monarchie sei nämlich der "Sieger auf der Balkanhalbinsel".

Doch es war nicht mehr die Zeit für große Pläne Wiens. Die Völker meldeten sich ab und formten sich zu neuen Konstellationen. Am 6. Oktober konstituierte sich in Zagreb der Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben als oberstes Vertretungsorgan der Südslawen der Monarchie. Das Wort vom "schwarz-gelben Völkerkäfig" wurde beschworen, dem man nun entrinnen wollte. Parallelstrukturen ersetzten zunehmend die bisherige kaiserlich-königliche Autorität.

Doch der neue SHS-Staat, der Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, der am 1. Dezember 1918 ausgerufen und 1929 in "Jugoslawien" umbenannt wurde, erwies sich von Anfang an als brüchig. Die maßgeblichen Vertreter der Slowenen und Kroaten strebten zunächst eigene Staatsbildungen an. Erst nachdem Italien nach Kriegsende Angriffe auf südslawisches Territorium unternahm, kam es zu einer Vereinigung der drei Völker - sowie der besonders unterdrückten Albaner und der bosnischen Muslime - unter einem Dach.

Die historisch-religiösen Gräben zwischen den Völkern taten sich jedoch auch in dem neuen Vielvölkerstaat schnell auf. Dies auch deshalb, weil es sich um einen von Serben geführten Zentralstaat handelte, der die föderalistisch gesinnten Kroaten ignorierte, die historischen Landesgrenzen aufhob und den Staat in 33 Gebiete gliederte. Die offiziell proklamierte einige jugoslawische Nation erwies sich als Imagination, im Zweiten Weltkrieg und dann noch einmal in den Balkankriegen der 1990er Jahre traten die Bruchlinien zwischen den Völkern blutig zutage.

  • Galizien: Kriegsende als Auftakt zu neuen Kriegen

Doch nicht nur auf dem Balkan war die Situation nach dem Zusammenbruch des Vielvölkerreichs Österreich-Ungarn explosiv. Der Satz des britischen Journalisten und Politikers Leopold Stennett Amery erwies sich leider als wahr. Amery hatte erklärt, dass man Mitteleuropa "im Handumdrehen in einen neuen Balkan verwandeln" würde, wenn es zur Gründung souveräner Nationalstaaten käme.

Das galt insbesondere auch für das multikulturelle österreichische Kronland Galizien und Lodomerien, wo sich Polen und Ukrainer gegenüberstanden, was im Konfliktfall vor allem für die zahlreichen Juden ein Risiko war - sie wurden verdächtigt, der jeweils anderen Seite zuzuarbeiten. In Polen bildete sich eine militärische Untergrundorganisation namens POW. Die Erlangung der Unabhängigkeit Polens nach mehr als 100 Jahren Fremdherrschaft erzeugte eine allgemeine Hochstimmung. Polen, die in der österreichischen Armee dienten, desertierten zunehmend und gingen zur POW. Am 7. Oktober forderte ein Regentschaftsrat, der sich in Warschau gebildet hatte, den Anschluss aller polnischen Gebiete der Monarchie an einen souveränen polnischen Staat. Galizien schied am 30. Oktober 1918 aus der Monarchie aus.

Doch war es tatsächlich so leicht, das gesamte Kronland Galizien an Polen anzuschließen? Die ethnographische Karte des Gebiets war keineswegs eindeutig. Für die Polen war etwa klar, dass die Stadt Lemberg, ein altes Zentrum polnischer Kultur, in der deutlich mehr Polen als Ukrainer wohnten, der neu erstandenen Rzeczpospolita zugeschlagen werden muss. Doch im Umland von Lemberg lebten vorwiegend Ukrainer, die so ebenfalls Anspruch auf das Gebiet erhoben.

Es kam, wie es kommen musste: zum Krieg. Ukrainische Kräfte besetzten aufgrund einer Entscheidung des letzten österreichischen Statthalters im Handstreich Ostgalizien und seine Hauptstadt Lemberg und proklamierten dort die "Westukrainische Volksrepublik". Den polnischen Einwohnern der Stadt gefiel es nicht, dass sie sich nach der lang ersehnten Unabhängigkeit Polens in einem ukrainischen Staat wiederfanden. Sie leisteten gewaltsamen Widerstand, es kam zu schweren Kämpfen, die die Polen am 22. November für sich entscheiden konnten. Im Anschluss kam es zu einem Pogrom an den Lemberger Juden, 64 bis 150 Menschen sollen dabei getötet worden sein.

Doch das war nur der Auftakt zum Polnisch-Ukrainischen Krieg, der sich bis Mitte 1919 hinzog und mit einem Sieg Polens endete - und mit einem Bündnis zwischen Polen und der Ukrainischen Volksrepublik von Kiew, um gemeinsam gegen die Rote Armee zu kämpfen. Der Polnisch-Sowjetische Krieg sollte sich noch bis 1921 hinziehen. Nur mit großer Mühe gelang es Polen, die Sowjettruppen vor Warschau in die Flucht zu schlagen und damit ein weiteres Ausbreiten der Revolution bis nach Deutschland zu verhindern.

Auch der polnisch-ukrainische Konflikt schwelte im Zwischenkriegspolen weiter. Polen suchte in ukrainisch geprägten Gegenden eine Polonisierungspolitik durchzusetzen. Polnische Bauern wurden angesiedelt, Ukrainer benachteiligt. Das sorgte für böses Blut. Die 1929 in Wien gegründete Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) verübte Attentate auf polnische Politiker, die Situation spitzte sich zu. Im Zweiten Weltkrieg kam es dann zum Massenmord in Galizien und Wolhynien, zu einem brutalen Gemetzel unter den beiden Bevölkerungsgruppen und zur planmäßigen "ethnischen Säuberung".