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"Mein Sieg über Hitler sind meine Nachkommen"

Von Petra Tempfer

Politik

Nigal war 15, als Nazis in der Nacht auf den 10. November 1938 die Synagogen in Brand setzten. Er überlebte.


Wien. Schon am Nachmittag des 9. November 1938 "begann ich zu ahnen, dass etwas los ist. Ich war allein zuhause. Die Hausbesorgerin, die kaum gehen konnte, kam zu mir und sagte: ,Sei vorsichtig. Die Gestapo ist im Haus.‘" Zwi Nigal, damals noch Hermann Heinz Engel, sei zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt gewesen, erzählt der heute 95-Jährige bei einem Besuch in seiner alten Schule, der AHS Zirkusgasse in Wien-Leopoldstadt, am Donnerstag. Mit seinen Eltern habe er in der nahe gelegenen Großen Stadtgutgasse 34 gelebt.

Kurze Zeit nach der Hausbesorgerin klopfte es wieder. "Vor der Tür sind zwei Männer im Ledermantel gestanden, man hat die Konturen der Pistole in ihren Taschen gesehen. Sie wollen die Wohnung sehen, haben sie gesagt." Vor der Fotografie des Onkels, der im Ersten Weltkrieg gefallen war, und die gemeinsam mit dessen Säbel an der Wand hing, seien sie stehen geblieben. "Und sie gingen. Wir hatten Glück."

Neun Prozent Juden in Wien

Viele andere Juden, die damals rund neun Prozent der Bevölkerung Wiens bildeten, hatten dieses Glück nicht. In dieser Nacht auf den 10. November 1938 setzten Nationalsozialisten mehr als 1400 Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen im Deutschen Reich unter Adolf Hitler (von 1933 bis 1945) in Brand oder zerstörten sie. Hunderte Juden starben, unzählige Jüdinnen wurden vergewaltigt. Nachweislich 26.000 Juden kamen danach ins Konzentrationslager.

Es war die Nacht der Novemberpogrome, die als entscheidender Schritt von der Diskriminierung der Juden, die bereits 1933 gestartet war, hin zur Judenvernichtung in die Geschichte einging. In der Folge wurde diese systematisch betrieben.

Joseph Goebbels, einer der engsten Vertrauten Hitlers, hatte dazu aufgerufen. Goebbels hatte die Anweisung zu den Pogromen als Spontanreaktion auf das Schussattentat auf NSDAP-Mitglied Ernst Eduard vom Rath durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan getarnt. Tatsächlich aber war dieses wohl nur ein willkommener Grund für die Pogrome. Diese waren von langer Hand geplant. Denn schon zuvor hatten etwa jüdische Geschäftsleute in Berlin weiße Zeichen auf ihre Schaufenster malen müssen - weil das die Zerstörung erleichterte.

Mit dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 an das nationalsozialistische Deutsche Reich waren 192.000 Juden zu den 350.000 Juden im Altreich hinzugekommen. Die Rüstungspolitik hatte die Gold- und Devisenreserven nahezu erschöpft. Die Enteignung, Verfolgung und Vernichtung der Juden versprach, diese wieder aufstocken zu können.

Damit diese Nacht und der Holocaust an sich nicht in Vergessenheit geraten, besuchten am Donnerstag Zeitzeugen insgesamt 20 Wiener Schulen. Sie saßen im Kreis der Schüler, erzählten aus ihren Erinnerungen und beantworteten deren Fragen.

Insgesamt 130 Zeitzeugen seien der Einladung von Bildungsminister Heinz Faßmann und Bundeskanzler Sebastian Kurz (beide ÖVP) nach Wien bei ihrem vergangenen Israel-Besuch gefolgt, sagte Faßmann, der mit Nigal in die AHS Zirkusgasse gekommen war. Es gehe darum, dass "Geschichte zur gemeinsamen Geschichte wird". Denn Geschichte berge auch Verantwortung, so Faßmann.

Nigals Geschichte führte ihn Anfang 1939 in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, wofür er ein Visum bekommen habe, wie er weiter erzählt. In der Wohnung in der Großen Stadtgutgasse habe zu dieser Zeit schon eine Nationalsozialistin gelebt. "Unser Glück ging im Dezember 1938 zu Ende. Eines Tages, es war ein Donnerstag, ist eine Frau zu uns gekommen und hat gesagt: ,Mir wurde diese Wohnung zugewiesen.‘" Der Vater, ein Eisenbahner, habe irgendwo ein Zimmer und einen Handwagen gefunden, in dem die Familie - unter den höhnischen Zurufen der Menschen "vor ihren Häusern mit den Hakenkreuzfahnen vom Dach bis zum Gehsteig" - ihre Habseligkeiten transportierte. "Dafür ist mein Onkel gefallen?", fragt sich Nigal.

Der Vater starb in Auschwitz

Bei seiner Abreise nach Palästina sei er noch überzeugt gewesen, dass ihm seine Eltern wenige Wochen später folgen würden. Seinen Vater sah er allerdings nie wieder. Er wurde im Konzentrationslager in Auschwitz ermordet. Seine Mutter kam während ihrer Flucht nach Palästina in britische Gefangenschaft nach Mauritius. Erst nach Ende des Krieges schafften sie ein Wiedersehen in Palästina.

Nigal diente als Freiwilliger in der britischen Armee, ging später zur israelischen Armee, heiratete und nahm seinen hebräischen Namen Zwi Nigal an, bevor er bis zur Pensionierung in der Industrie arbeitete. Nach Österreich wollte er eigentlich nie wieder zurück, sagt er. Irgendwann habe er dennoch Frieden geschlossen. "Mein persönlicher Sieg über Hitler, das sind meine zwei Söhne, meine sieben Enkel und vier Urenkel -bald fünf."

Auf dem Haus in der Großen Stadtgutgasse erinnert heute eine Gedenktafel an die "jüdischen BewohnerInnen dieses Hauses, die in den Jahren des Naziterrors vertrieben oder deportiert und ermordet worden sind", wie darauf zu lesen steht. Unter den 39 Namen findet man auch Theodor Otto Engel und Jeanette Engel - Nigals Eltern -sowie Hermann Heinz Engel.