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"Konservativ" in der Krise

Von Werner Reisinger

Politik
Deutschlands CSU- Innenminister Seehofer (l.), Kanzler Kurz und Vizekanzler Strache: Wer sieht sich als "christlich-sozial", wer als "konservativ"?
© Hans Punz

Bei der Wählerzustimmung feiern Konservative, allen voran Bundeskanzler Kurz, Erfolge. Ideologisch aber gibt es Brüche.


Wien. Es ist beinahe schon ein Ritual, das Politikjournalisten seit über einem Jahr begleitet. Sebastian Kurz, der jüngste Kanzler der Zweiten Republik und Schöpfer der zur türkisen Bewegung stilisierten ÖVP, und Heinz-Christian Strache, Chef der Freiheitlichen, die überall in Europa als extrem rechte Partei mit Argusaugen beobachtet wird, verkaufen die Früchte ihrer konstruktiven Zusammenarbeit, demonstrieren Harmonie. So geschehen auch bei der Ein-Jahres-Bilanz der Regierung vor Weihnachten.

Die Fragen der Journalisten aber drehen sich um Skandale und rechtsextreme Ausritte der Freiheitlichen. Allen voran deutsche Journalisten wollen von Sebastian Kurz wissen, wo er die Grenze zieht. Etwa wenn FPÖ-Männer wie der niederösterreichische Landesrat Gottfried Waldhäusl Asylwerber ohne Gerichtsurteil in Lager sperren. "Wie Sie sehen, haben wir hier unterschiedliche Auffassungen", sagt Kurz dann lapidar. "Die Grenze ist das Strafrecht", das ist Kurz’ Credo, wenn es um die extreme Rechte geht.

Der enorme Spielraum, den Kurz den Freiheitlichen einräumt, gibt Kurz auch die Chance, sich selbst immer wieder als den moderaten, pragmatischen, europafreundlichen Part darzustellen. Selbst wenn FPÖ-Politiker wie Johann Gudenus oder Christian Hafenecker die dezidiert christlich-soziale Caritas frontal angreifen, diese als "Asylindustrie" diffamieren und ihr "Profitgier" unterstellen, sind es nicht ÖVP-Politiker, sondern linke Kräfte, die zur Verteidigung ausrücken. Vom Kanzler gibt es zu den Attacken des Koalitionspartners nur donnerndes Schweigen. Im Gegenteil: Er glaube nicht, dass Caritas-Präsident Michael Landau zur türkisen Wählerschaft zähle, sagt Kurz. Es gebe niemanden, der ein Recht habe, zu definieren, was christlich-sozial sei. Sehr wohl christlich-sozial sei seine Reform der Mindestsicherung, inklusive aller Kürzungen für Geflüchtete.

Nicht immer aber schweigen die Vertreter der alten, "schwarzen" ÖVP. Ehemalige Parteigranden, die auch heute noch großen Einfluss ausüben, beziehen öffentlich Position gegen die Law-and-Order-Politik des Kanzlers und der FPÖ. Zuletzt stellte sich der mächtige niederösterreichische Ex-Landeshauptmann Erwin Pröll demonstrativ hinter die Initiative "Ausbildung statt Abschiebung" des oberösterreichischen Grünen Rudi Anschober. Die Liste der schwarzen Kritiker wird immer länger: Die ehemaligen ÖVP-Vizekanzler Wilhelm Molterer und Reinhold Mitterlehner sind darunter, der frühere Flüchtlingskoordinator und Raiffeisen-Manager Christian Konrad und sein Vertrauter Ferry Maier gelten längst als dezidierte Kurz-Kritiker. Der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler nimmt sich medial kein Blatt vor den Mund. Das Jahr 2019 werde zum Schlüsseljahr für die Koalition, sagt er.

Das ist bemerkenswert. Schließlich schaffte es die ÖVP in der Vergangenheit immer besser als die mittlerweile europaweit darniederliegenden Sozialdemokraten, personelle oder inhaltliche Streitigkeiten intern zu belassen - im Interesse des Machterhalts, und den Umfragewerten zuliebe. Es ist ohne Zweifel ein Prozess der Entfremdung: Hier ein nach wie vor populärer Kanzler, der "Veränderung" versprochen hat und dessen Politik vor allem die Interessen der Wirtschaft umsetzt, unter Inkaufnahme von Angriffen auf die politische Kultur, kritische Medien und die Zivilgesellschaft - dort die "alte" ÖVP, die immer lauter eine Abgrenzung nach rechts einfordert. Letztere sehen die einst stolz vor sich hergetragenen christlich-sozialen und konservativen Werte verwässert, angesichts einer global von der extremen Rechten vorangetriebenen Großwetterlage.

Zusammengehalten würde das alles einzig vom Wahlerfolg und den nach wie vor exzellenten Umfragewerten, sobald der Erfolg ausbleibe, würde das Phänomen Kurz rasch verschwinden, so die Annahme zahlreicher Regierungskritiker.

Was also bedeutet es heute, "konservativ" zu sein? Wer darf sich "christlich-sozial" nennen? Vieles spricht für einen Kampf um die Deutungshoheit der Begriffe. Und dieser spielt sich keineswegs nur innerhalb des ÖVP-Spektrums ab. "Ich will die konservative Revolution über 2021 hinaus fortsetzen", ließ der oberösterreichische FPÖ-Chef und stellvertretende Landeshauptmann Manfred Haimbuchner via "Kurier"-Interview im vergangenen Sommer wissen. "Konservative Revolution", das will Haimbuchner - er ist deutschnationaler Burschenschafter - gesellschaftspolitisch verstanden wissen. In der Wirtschaft aber soll es liberal zugehen.

Dass er dabei den Begriff "Konservative Revolution" verwendet, kann als eine für die FPÖ nur allzu typische, zweideutige Provokation verstanden werden. Bezeichnet der Begriff doch eine Sammlung von reaktionären, völkischen und teilweise nationalsozialistischen Strömungen der Weimarer Republik, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der sich neu formierenden extremen Rechten, der "neuen Rechten", wiederentdeckt wurde. Sie alle einte und eint Antimarxismus, Antisemitismus und eine antipluralistische Demokratiefeindlichkeit. Haimbuchners Rhetorik aber ist mehr als nur Provokation. "Die FPÖ wird die neue Zentrumspartei à la CSU", verkündete er schon 2016 seine Ambition, die FPÖ zu einer Volkspartei zu formen, eine, die man wie die CSU eben als "konservativ" wahrnehmen sollte.

Auch die Randbereiche der Partei, allen voran extrem rechte Medien, rechtsintellektuelle Vordenker oder die mit der "neuen Rechten" eng verwobene Identitäre Bewegung, versuchen sich seit geraumer Zeit selbst das Label "konservativ" umzuhängen - nicht ohne Hintergedanken, geht es dem Milieu doch dezidiert um einen Schulterschluss ins bürgerliche Spektrum. Dass dieser immer häufiger gelingt, zeigen nicht nur die extrem rechten "Alternativmedien", die immer häufiger ehemals etablierte Autoren aus dem rechtskonservativen Bereich für sich gewinnen können.

Hier zeigt sich in einer medialen Politik jene "rohe Bürgerlichkeit", die der deutsche Soziologe Wilhelm Heitmeyer untersucht hat. In zahlreichen quantitativen Erhebungen wies Heitmeyer nach, dass minderheitenfeindliche, ja rassistische Positionen bereits schon vor mehr als zehn Jahren in der deutschen Bevölkerung anzutreffen waren. Vorangegangen war der "Verrohung" laut dem Soziologen ein langer Prozess der sozialen Desintegration aufgrund eines immer stärker werdenden ökonomischen Leistungsdrucks und der damit verbundenen radikalen Individualisierung. "Rohe Bürgerlichkeit", schreibt Heitmeyer, finde "ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung bzw. Einforderung eigener Etabliertenvorrechte". Sie artikuliere sich über eine Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Genau hier finden nach rechts gerückte Konservative und extreme Rechte zusammen. Sie teilen die Feindbilder: "Politisch Korrekte", linke Intellektuelle, Feministen, Asylwerber und ihre "Willkommensklatscher". Die Krise des Konservativen ist keine wahlpolitische, sie ist eine zutiefst ideologische. Reinhold Mitterlehner, jetzt wie erwähnt Unterstützer von "Ausbildung statt Abschiebung", sprach im September 2015, am Höhepunkt der Flüchtlingsbewegungen, noch von "Asyl à la carte".

Wer aber einen gesellschaftspolitischen Umbau von rechts will, dem stehen vielfach nicht nur gesellschaftlich über Jahrzehnte gewachsene Konventionen, sondern oft auch gesetzliche Grenzen im Wege. Wer Ungleichheit zwischen Österreichern und "kulturell Fremden" politisch einzementieren will, der muss selbst die Menschenrechte in Frage stellen - und gerät regelmäßig mit den Höchstgerichten in Konflikt.

Dass es keineswegs ausschließlich der Sommer 2015, die Flüchtlingsbewegungen an den Grenzen und das damit einhergehende Gefühl eines totalen Kontrollverlusts und des Versagens der supranationalen EU sein müssen, die die Konservativen in die - ideologische - Krise stürzten, zeigen die Beispiele unserer europäischen Nachbarn. In Großbritannien droht der Brexit die Tories zu zerreißen. In Frankreich ist es eine ideologisch noch indifferente, von massiver sozialer Unzufriedenheit getragene Aufstandsbewegung, die den liberal-konservativen Präsidenten Emmanuel Macron in eine veritable Krise stürzt.

Und auf Ebene der EU? Sollen die europäischen Volksparteien Viktor Orbáns Fidesz aus der Fraktion werfen? Was erwartet Europas Konservative, wenn die extreme Rechte sich bei den EU-Wahlen im Mai den zweiten Platz im EU-Parlament erkämpfen sollte? Eine Krise, so heißt es ja, ist immer auch eine Chance.